Zentralasien
Grenzen aus der Sowjetzeit verursachen heute noch Probleme
Im Jahr 2022 wurden bei einem blutigen Konflikt zwischen den Armeen Kirgisistans und Tadschikistans, der vier Tage andauerte, mindestens 37 Zivilist*innen getötet, darunter fünf Kinder. Schulen und andere Infrastruktur wurden beschädigt, den Kindern war mehrere Monate lang kein richtiger Schulbesuch möglich. Allein in Kirgisistan wurden geschätzt 130 000 Menschen vertrieben.
Bei einem ähnlichen, zwei Tage dauernden Konflikt zwischen den beiden Ländern im April 2021 starben ebenfalls Dutzende von Menschen.
Zu Gewalt kam es auch im Mai 2020, als sich Dorfbewohner*innen aus Kirgisistan und Usbekistan über eine Quelle stritten. 25 Personen wurden schwer verletzt, reguläre Sicherheitskräfte waren in diesem Fall nicht beteiligt.
Seit die zentralasiatischen Länder 1991 von der Sowjetunion unabhängig wurden, kommt es im Ferghanatal immer wieder zu Gewalt. Das fruchtbare Tal ist heute zwischen Usbekistan, Kirgisistan und Tadschikistan aufgeteilt. Im 18. Jahrhundert war es das Khanat von Kokand. 1876 wurde es vom russischen Zaren Alexander II. annektiert. Kokand ist heute eine usbekische Stadt im Ferghanatal.
Paternalismus der Zaren
Die aktuellen Spannungen gehen auf die 1920er-Jahre zurück. Damals wollte die Sowjetunion das gesamte bis zur kommunistischen Revolution von 1917 bestehende Gebiet des Russischen Reiches kontrollieren.
Es ist müßig, darüber zu diskutieren, ob die Sowjetunion ein Kolonialreich war oder nicht. Sicher ist, dass sie den paternalistischen Ansatz der Zaren fortführte. Unter deren Herrschaft hatte Russland im 19. Jahrhundert nach Zentralasien expandiert – aus wirtschaftlichen Interessen und strategischen Überlegungen. Insbesondere ging es den Zaren darum, den wachsenden Einfluss des britischen Empire in der Region einzudämmen.
Wie andere europäische Imperialisten sprachen die Zaren davon, noch nicht zivilisierte Länder zivilisieren zu wollen. Der Historiker Jürgen Osterhammel definierte diese „zivilisatorische Mission“ nicht nur als selbsternanntes Recht, sondern gar als Pflicht, die eigenen Normen und Institutionen bei anderen Völkern und Gesellschaften zu propagieren und aktiv einzuführen, basierend auf der festen Überzeugung von der inhärenten Überlegenheit und höheren Legitimität der eigenen kollektiven Lebensweise (2005, S. 12).
Separate Sowjetrepubliken
Auch die sowjetische Führung sah Zentralasien als rückständig und fortschrittsbedürftig an. Sie zog willkürlich Grenzen und bestimmte separate Sowjetrepubliken, die natürlich alle zur Sowjetunion gehörten.
Historiker*innen sind sich uneins darüber, weshalb die Moskauer Führung die Grenzen auf diese Weise zog. Sie berücksichtigte die ethnisch-linguistische Zusammensetzung der Region, achtete aber auch darauf, dass die Autonomie der neuen Republiken begrenzt blieb. Ihr Top-down-Ansatz erinnert an die europäischen Kolonialisten, die in Afrika ungeachtet bestehender sozialer Beziehungen Grenzen zogen.
In vorsowjetischer Zeit war die Bevölkerung des Tals sehr divers, ein Mix aus Nomad*innen, die turk-mongolische Sprachen sprachen, und sesshaften persischen Gemeinschaften. Die verschiedenen ethno-linguistischen Gruppen lebten oft in gemischten Städten und Dörfern.
Erst die Sowjetherrscher definierten drei ethnische Gruppen – Kirgis*innen, Usbek*innen und Tadschik*innen – als eigene Nationalitäten. Es wurden neue Grenzen gezogen, um neue Republiken zu schaffen, die zu diesen neuen ethnischen Identitäten und Institutionen mit neu konstruierten Vergangenheiten passen sollten. Tatsächlich aber spalteten die neuen Binnengrenzen der Sowjetunion bestehende Gemeinschaften und kappten wichtige soziale, wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen.
Diverse Exklaven und Enklaven verkomplizierten alles zusätzlich. Die Territorien der neuen Republiken waren unzusammenhängend, Menschen und Waren mussten also oft die Grenzen der Republiken queren. Die Enklaven lagen oft an strategisch wichtigen Orten, wo es relevante Ressourcen wie Wasser und fruchtbares Land gab. Lebenswichtige Infrastruktur, etwa Bewässerungssysteme, versorgte Menschen auf beiden Seiten der Grenze – die Republiken mussten also kooperieren.
Moskau als letzte Instanz
Dank dieses Arrangements konnte Moskau de facto die Kontrolle über wichtige Wirtschaftsgüter behalten – auch wenn es nominell den Republiken die Macht übergab. Was ein Gefühl der ethnischen Selbstbestimmung fördern sollte, wurde praktisch zu einer Strategie des Teilens und Herrschens. Bei Konflikten wurde Moskau zum ultimativen Schiedsrichter. Und die russische Sprache wurde noch wichtiger, als sie bereits war.
Bezeichnenderweise nutzten die sowjetischen Behörden eine zaristische Rhetorik von „Stabilität“. Sie fokussierten sich auf ethnische Identitäten und reduzierten damit die Rolle des Islams als gemeinsamer Nenner in der Region.
Direkt nach der Teilung 1924 kam es zu Grenzkonflikten, bei denen die neue usbekische und die kara-kirgisische Republik Land auf dem Gebiet der jeweils anderen beanspruchten. Zwischen 1924 und 1927 wurde mehrfach versucht, die Grenzen anzupassen. An den Verhandlungen waren Ausschüsse aus Moskau, Taschkent und Frunse (heute: Bischkek) beteiligt. Eine wichtige Neuerung war 1929 die Gründung einer eigenen tadschikischen Republik.
Trennende internationale Grenzen
Zu Sowjetzeiten interessierten die Binnengrenzen nur die Verwaltung. Im Alltag blieben sie weitgehend unsichtbar, die Menschen bewegten sich frei zwischen den Republiken. Das änderte sich 1991: Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die Verwaltungsgrenzen zu internationalen Grenzen.
Dies führte zu drei Arten von Auseinandersetzungen:
- Konflikten um die Bewirtschaftung von Ressourcen, vor allem von Wasser,
- soziale Unruhen wegen der eingeschränkten Beziehungen über die Grenzen hinweg, und
- offiziellen Grenzkonflikten, die durch die zunehmende ethnische und nationale Abgrenzung verschärft wurden.
Rückblickend war die Neuordnung der politischen Landkarte Zentralasiens in den 1920er-Jahren wohl die folgenreichste politische Maßnahme der sowjetischen Ära für das Ferghanatal. Die willkürlich gezogenen Grenzen machen bis heute immer wieder Probleme.
In der tadschikischen, von Kirgisistan umgebenen Enklave Woruch etwa dient der Fluss Ak-Suu – auch bekannt als Isfara – der Landwirtschaft in beiden Ländern als wichtige Wasserquelle. Nach wie vor streiten die Regierungen um die Wasserbewirtschaftung. Woruch war einer der Hauptschauplätze der beiden erwähnten bewaffneten Kurzkonflikte von 2021 und 2022.
Es gab auch weitere Unruhen. Anfang 1999 eskalierten die regionalen Spannungen, als Usbekistan begann, seine Grenzen zu Kirgisistan und Tadschikistan zu schließen und dafür wirtschaftliche und sicherheitspolitische Bedenken anführte. Usbekistan war bei der Grenzkontrolle am aggressivsten, richtete Minenfelder und Kontrollpunkte ein und erwog, Grenzmauern zu ziehen.
Bemerkenswert war auch ein Vorfall ethnischer Gewalt in Osch, Kirgisistan, im Jahr 2010. Dieser und weitere Vorfälle zeigen, wie fragil die interethnischen Beziehungen in der Region sind.
Auf politischer Ebene versuchte man, auf die Konflikte zu reagieren und die Grenzen besser zu definieren – was jedoch kaum gelingt. Bis 2009 war die Grenze zwischen Usbekistan und Tadschikistan im Ferghanatal weitgehend definiert. Zwischen Tadschikistan und Kirgisistan sowie Usbekistan und Kirgisistan waren die Grenzen aber nach wie vor weitgehend unbestimmt und nicht demarkiert. Nach den Konflikten von 2021 und 2022 wird die Grenze zwischen Kirgisistan und Tadschikistan nun endlich festgelegt und demarkiert, wobei nach neuesten Informationen nur noch sechs Prozent der Grenze strittig sind. Der Plan sieht vor, die Grenzen bis Ende 2024 endgültig festzulegen.
Es stellt sich die Frage, wie sinnvoll es eigentlich ist, den Fokus darauf zu legen, die Gemeinschaften im Ferghanatal derart zu trennen. In diesem Versuch wurzeln ja gerade die Konflikte um Ressourcen. Sie sind verwoben mit komplizierten Vorstellungen von nationaler Identität und haben den Charakter der Region grundlegend verändert. Eine einst kohärente Einheit ist nun fragmentiert.
Ausblick – die Zukunft des Ferghanatals
Das aktuelle Flickwerk von Enklaven und Exklaven führt immer wieder zu Spannungen und Konflikten. Nötig sind nicht nur technische Lösungen wie die Grenzziehung. Die Region muss sich auch tiefergehend mit dem sie weiterhin prägenden kolonialen Erbe befassen.
Die immer wieder aufflammenden Grenzkonflikte im Ferghanatal verweisen auf die anhaltenden Folgen von Kolonialpolitik, selbst Jahrzehnte nach dem Ende der formellen Kolonialherrschaft. Mit der nationalen Abgrenzung zielte die Sowjetunion vorgeblich darauf ab, die lokalen Ethnien zu stärken, führte aber tatsächlich in vielerlei Hinsicht die kolonialen Praktiken des Teilens und Herrschens fort und verstärkte diese sogar.
Die zentralasiatischen Regierungen sollten eine innovative, über das starre ethno-nationale Denken der Sowjetzeit hinausgehende Politik verfolgen. Sie müssen endlich die lange Geschichte der Verflechtungen innerhalb der Region anerkennen. Die komplexen, vielschichtigen Identitäten der Menschen im Ferghanatal lassen sich nicht angemessen entlang ethnisch-linguistischer Linien definieren. Eine Politik, die das erkennt, könnte der Schlüssel zu dauerhaftem Frieden sein.
Quelle
Osterhammel, J., 2005: The great work of uplifting mankind. In: Barth, B., Osterhammel, J., (Hrsg.): Zivilisierungsmissionen: Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrundert. Konstanz, UVK Verlag.
Syinat Sultanalieva ist eine zentralasiatische Forscherin für Human Rights Watch.
sultanalievas@gmail.com
Twitter/X: @SyinatS