Roman

Eine Geschichte ist immer Teil der Strömungen unserer Zeit

Der Roman „Die Abtrünnigen“ von Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah spielt in Sansibar und erzählt vom Widerstand gegen gesellschaftliche und kulturelle Normen und von der Kraft der Liebe, verwoben in historischen, politischen und kulturellen Kontexten. Dieser Beitrag ist der achte unseres diesjährigen Kultur-Spezialprogramms mit Rezensionen künstlerischer Werke mit entwicklungspolitischer Relevanz.
Markt in Sansibar zu Beginn des 20. Jahrhunderts. picture-alliance /CPA Media Co. Ltd Markt in Sansibar zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Auf seinem Weg zur Moschee bemerkt der Krämer Hassanali einen Schatten, den er zuerst für einen bösen Geist hält. Doch dieser seufzt und stöhnt und gibt sich somit zweifelsohne als menschliches Wesen zu erkennen. Der leichenblasse Mann ist der britische Kolonist Martin Pearce. Obwohl Hassanali keinen Platz und kaum Geld hat, lässt er den Mzungu – den Weißen – zu sich nach Hause bringen. Dort pflegt ihn seine Schwester Rehana, bis der Kolonialbeamte Frederick Turner, ein Landsmann des Aufgefundenen, Pearce zu sich holt.

Für Pearce sind die Kolonialisten, ihr imperiales Gehabe und ihre herablassende Haltung der einheimischen Bevölkerung gegenüber ein Gräuel. So ist der Plantagenverwalter Burton der festen Überzeugung, dass die Zukunft Großbritanniens in Afrika im sukzessiven Verschwinden der afrikanischen Bevölkerung liege, an deren Stelle europäische Siedler*innen treten würden. Pearce hingegen ist der Meinung, dass die Kolonialisten den Einheimischen die Sorge um ihr Wohl schuldig sind, „für die Art, wie wir in ihr Leben eingedrungen sind und ihre Gewohnheiten gestört haben“.

Er kehrt mehrfach durch das enge Gassengewirr von Stone Town in das Haus von Hassanali zurück. Aus der von ihrem Mann verlassenen Rehana und ihm wird ein heimliches Liebespaar. Als der Krämer davon erfährt, wirft er seiner Schwester vor, jedes Maß an Anstand verloren zu haben – obwohl die Geschwister selbst Kinder einer gesellschaftlich geächteten Ehe zwischen einem Inder und einer Swahili sind. Auch in der Welt der Kolonisten stößt die Liebesbeziehung auf Missgunst. Die beiden fliehen nach Mombasa und leben eine Weile offen in wilder Ehe zusammen, bis Pearce die schwangere Rehana eines Tages verlässt.

Aus dem Jahr 1899 springt die Erzählung zum Ende der 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts, als der ganze afrikanische Kontinent von Aufständen gegen die koloniale Fremdherrschaft erschüttert wird. Inmitten dieser politischen Umwälzungen wachsen die Geschwister Amin, Rashid und Farida in Sansibar auf. Amin verliebt sich in die etwas ältere Jamila.

Die heimliche, leidenschaftliche Liebesbeziehung zwischen den beiden fliegt auf und droht schon bald am Widerstand der Familien und den gesellschaftlichen Zwängen zu zerbrechen, denn um die geheimnisvolle Jamila ranken sich allerlei Gerüchte: Sie soll schon einmal verheiratet gewesen sein, ihr Mann habe sie verstoßen, ihre Familie sei verflucht. Es stellt sich heraus, dass bereits Jamilas Großmutter einst für eine verbotene Liebe alles riskiert hatte. Mit Rehanas Enkeltochter setzt sich die Geschichte also fort.

Rashid, Amins kleiner Bruder, studiert dank eines Stipendiums in London. Aufgrund der politischen Situation zu Hause kann er viele Jahre nicht zurück in seine Heimat. In London leidet er unter dem unerträglichen Gefühl des Fremdseins. Er grübelt viel. Die tragische Liebesgeschichte seines Bruders lässt ihn nicht los. Während einer Veranstaltung zum Thema „Race und Sexualität in den Werken von Siedlern in Kenia“, in der er über Rehana und ihre Affäre mit dem Engländer erzählt, spricht ihn eine Teilnehmerin an. Sie kennt die Geschichte aus Erzählungen ihres Großvaters, der um die Jahrhundertwende Distriktverwalter in einer kleinen Stadt an der Küste Kenias war. Die Fäden laufen zusammen, Schicksale und Geschichten sind miteinander verwoben.

Genau das ist Gurnahs Absicht: zu zeigen, dass Geschichten nicht uns gehören, dass sie Schicksale in sich tragen und zufällig durch die Zeit fließen wie das Wasser im Fluss.

Viele Schicksale in Gurnahs Roman macht die Zeit, in der sie leben, dabei zu „Abtrünnigen“ – Pearce, der aus der Welt der Kolonialherren ausbricht, Rehana und Jamila, die sich der Gesellschaft widersetzen, oder Menschen, die nach England abwandern, weil sie dort ein besseres Leben führen können.

Einer dieser Menschen ist der Autor selbst. Geboren 1948 im Sultanat Sansibar, flüchtete er mit 18 Jahren nach Großbritannien. In Sansibar hatte es 1964 gewalttätige Ausschreitungen gegeben, vor allem gegen die arabischstämmige Minderheit muslimischen Glaubens, zu der auch Gurnah gehört. Heute ist er Professor emeritus für englische und postkoloniale Literatur an der Univer­sity of Kent.

Buch
Gurnah, A., 2023: Die Abtrünnigen. München, Penguin Random House.

Dagmar Wolf ist Redaktionsassistentin bei E+Z/D+C.
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