Sommer-Special

Mädchenschicksal

Ixcanul ist ein schöner Film. Nicht nur wegen der beeindruckenden Bilder der guatemaltekischen Vulkanlandschaft, in der er gedreht ist. Und auch nicht nur wegen der Ursprünglichkeit und Exotik des Lebens seiner indigenen Protagonisten, das in traditionellen Riten wurzelt und viele – vor allem westliche – Zuschauer fasziniert. Es ist vor allem deshalb ein schöner Film, weil er die Maya, marginalisiert, arm und ungebildet wie sie sind, in all der Würde zeigt, die sie sich dennoch bewahrt haben.
María bereitet sich auf die Hochzeit vor. Pressefoto María bereitet sich auf die Hochzeit vor.

Jayro Bustamante erzählt in seinem ersten Spielfilm von der Gegend, in der er selbst aufgewachsen ist. Im Mittelpunkt steht ein Dorf der Caqchikel, eines indigenen Volks in Guatemala, das zur Gruppe der Maya gehört. Als Schauspieler hat Bustamante Dorfbewohner ohne jegliche Schauspielerfahrung rekrutiert. Er organisierte Workshops, in denen die sozialen Probleme der Gemeinschaft zur Sprache kamen, er hörte sich die Lebensgeschichten der Menschen an und lernte ihre Erfahrungen und Sorgen kennen. Dann schrieb Bustamante die Story. Sie ist fiktiv, basiert aber auf einer wahren Geschichte. Dem Regisseur gelingt so eine besondere Perspektive aus dem Inneren der Maya-Community heraus.

Hauptthema ist die gesellschaftliche Rolle der Frau: insbesondere der Frau als Mutter und der Frau als Opfer, wie Bustamante in Interviews sagte. Die Geschichte von Ixcanul, was in der Caqchikel-Sprache „Vulkan“ heißt, ist traurig. Sie beschreibt das typische Schicksal von Millionen von Mädchen weltweit. Die 17-jährige María, die mit ihren Eltern auf einer Kaffeeplantage am Fuß des Vulkans lebt und arbeitet, soll den Vorarbeiter Ignacio heiraten. Er ist eine gute Partie. Die Hochzeit würde nicht nur María, sondern auch ihre Eltern absichern.

María ist jedoch alles andere als begeistert. Ignacio, ein Witwer mit drei Kindern, ist deutlich älter als María und wenig attraktiv. Außerdem ist da noch Pepe, der ebenfalls auf der Plantage arbeitet und mit dem María angebandelt hat. Pepe, mehr Junge noch als Mann, ist zwar auch nicht Marías große Liebe. Aber er ist jung und rebellisch und verkörpert somit die Hoffnung auf Veränderung. Pepe zieht es jedoch in die USA, und auf dieser Reise kann er gewiss keinen Klotz am Bein gebrauchen.

María fasziniert die Vorstellung, mit Pepe zu gehen und mit dem traditionellen Leben zu brechen, das ihr beschieden ist. Gleichzeitig hat sie Angst davor. Ixcanul ist auch ein Film über das Erwachsenwerden. Er erzählt von der inneren Zerrissenheit eines jungen Mädchens zwischen der Welt, die es kennt, und der großen weiten Welt jenseits des Vulkans. Erwachende Sexualität spielt ebenfalls eine Rolle. María verliert ihre Jungfräulichkeit mit Pepe – hauptsächlich, um ihn an sich zu binden. Allerdings ohne Erfolg. Als María schließlich mit Pepe weggehen will, ist es zu spät: Er hat das Dorf bereits verlassen, ohne ihr Bescheid zu sagen. Zurück bleibt María, schwanger und in großen Schwierigkeiten – auch für ihre Eltern.

Ihre Mutter Juana nimmt die Sache in die Hand. Sie wendet verschiedene Maya-Rituale an, die jedoch nicht den gewünschten Effekt erzielen. Nach mehreren erfolglosen Abtreibungsversuchen kommt Juana zu dem Schluss, dass dieses Baby das Licht der Welt erblicken soll. Doch dann kommt es zu einer dramatischen Situation, in der traditionelle Vorstellungen und die Moderne aufeinander­prallen. Nach einem Schlangenbiss retten weiße Ärzte im Krankenhaus Marías Leben. Der Preis dafür ist hoch: Sie nehmen ihr das Baby weg, indem sie der Familie erzählen, es habe den Noteingriff nicht überlebt. Kinderhandel war in Guatemala lange ein großes Problem, und die Betroffenen waren fast immer Indigene.

Am Ende heiratet María Ignacio doch. Sie hat es nicht geschafft, ihrer Bestimmung zu entkommen. María hat ihr Kind verloren und den Mann, der für Veränderung stand. Aber ist Ohnmacht wirklich die einzig mögliche Reaktion? Letztlich, das versinnbildlicht der Film, ist María wie der Vulkan: außen Stein, aber innen Feuer. Eines Tages wird sie ausbrechen. María mag gezwungen sein, ihre Rolle als Frau zu spielen. Aber sie kann vielleicht eines Tages für ihre eigenen Töchter anders entscheiden.


Film
Ixcanul (Vulkan), 2015, Guatemala/Frankreich, Regisseur: Jayro Bustamante