Governance
Autoritäre Einstellungen in Westafrika wurzeln in der Kolonialzeit
Im späten 19. Jahrhundert teilten europäische Mächte Afrika auf und gründeten Kolonien. Großbritannien und Frankreich übernahmen die Herrschaft über Westafrika mit Ausnahme kleinerer portugiesischer Kolonien: das heutige Guinea-Bissau und die Kapverdischen Inseln.
Die Kolonialmächte brachten afrikanische Herrscher dazu, „Freundschafts- und Schutzverträge“ zu unterzeichnen, und übertrugen so die Kontrolle über ganze Königreiche auf Europa. Gab es kein Einverständnis, nutzten sie Militärgewalt. Ihr Interesse galt vor allem der Rohstoffgewinnung.
Britische und französische Herrschaft liefen zwar nicht identisch ab, aber recht ähnlich. Die Briten sprachen von „indirekter Herrschaft“, die Franzosen von „Assimilation“. Beide sahen Afrika als dunklen Kontinent, der das Licht der westlichen Zivilisation brauche.
Die Briten meinten, Afrikaner*innen könnten am besten durch ihre eigenen traditionellen Regierungssysteme regiert werden. Vorgeblich durften sie sich selbst regieren – wenn auch unter britischer Kontrolle – und traditionelle Bräuche erhalten.
Das war aber leeres Geschwätz, denn es blieben nur jene afrikanischen Herrscher an der Macht, die sich den Briten komplett unterwarfen. Alle anderen ersetzten die Kolonialherren durch „warrant chiefs“ – oft Personen mit niederem Status in der afrikanischen Gesellschaft, teils sogar Ausgestoßene, die normalerweise nie in die Nähe einer Führungsposition gekommen wären.
Analog dazu ernannten auch die Franzosen Häuptlinge, genannt „chefs de canton“. Beide waren vor allem zuständig für:
- die Erhebung von Steuern für die Kolonialverwaltung,
- die Regulierung des Handels und
- die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, was aber tatsächlich nur der Dominanz der Kolonialmacht diente.
Unzurechnungsfähige Verwalter
Warrant chiefs und chefs de canton waren angestellte Bedienstete der Kolonialverwaltung. Sie verdankten ihre Autorität nicht den Afrikaner*innen, über die sie herrschten, sondern den Kolonialbehörden, die sie ernannt hatten. Sie konnten beliebig entlassen und ersetzt werden. Zugleich konnten sie davon ausgehen, dass ihre Vorgesetzten sich kaum in lokale Fragen einmischten. Tatsächlich waren sie sogar mächtiger als ihre vorkolonialen Vorgänger. Warrant chiefs und chefs de canton waren der Bevölkerung gegenüber nicht rechenschaftspflichtig und nicht durch Traditionen des Beratens eingeschränkt, die Ältesten oder Glaubensgelehrten beträchtlichen Einfluss auf lokale Angelegenheiten verliehen.
Einige Historiker sind der Ansicht, warrant chiefs hätten mehr Macht gehabt als chefs de canton, doch höchstwahrscheinlich war dies von Ort zu Ort verschieden. Jedenfalls gab es kaum grundlegende Unterschiede zwischen der britischen und französischen Kolonialpolitik.
Sowohl London als auch Paris waren der rassistischen Ansicht, die Europäer seien überlegen, und sahen sich auf einer zivilisatorischen Mission. Hauptsächlich aber wollten sie ihre Imperien aufbauen und afrikanische Ressourcen nutzen.
Da Steuerzahler*innen in den imperialen Zentren nicht bereit waren, für die Verwaltung weit entfernter Kolonien zu zahlen, basierte „indirekte Herrschaft“ auf der Logik, die afrikanischen Kolonien müssten ihre eigene Verwaltung durch Handel und Steuern finanzieren.
Assimilation ohne Staatsbürgerschaft
Im französisch kontrollierten Teil Westafrikas sah es letztlich genauso aus. Idee der französischen Assimilierung war aber, dass die Afrikaner*innen von der Überlegenheit französischer Sprache und Kultur profitieren würden. Anders als bei den Briten sollten alle afrikanischen Untertanen französische Staatsbürger*innen werden, um vollwertige Menschen zu sein. Diese Idee scheiterte.
Hätten alle kolonialen Untertanen volle Staatsbürgerschaft erhalten, wären die Franzosen und Französinnen zur Minderheit im eigenen Land geworden. Ein afrikanischer Kandidat hätte leicht Präsident werden und im französischen Parlament hätte es eine Mehrheit afrikanischer Abgeordneter geben können. Beides war für die imperiale Macht nicht hinnehmbar.
Nur vier afrikanische, im heutigen Senegal gelegene Gemeinden, „communes“ genannt, wurden komplett französisch: Dakar, Goree, St. Louis und Rufisque. Ihre Einwohner*innen wurden vollwertige Staatsbürger*innen, aber alle anderen Afrikaner*innen unter französischer Herrschaft blieben Untertanen ohne Wahlrecht oder andere Assimilierungsvorteile.
Die Franzosen waren bei der Abschaffung afrikanischer Regierungssysteme direkter. Die Briten versteckten sich hinter dem Deckmantel der „indirekten Herrschaft“ und stützten sich ein Stück weit auf afrikanische Strukturen, während die Franzosen diese durch Kantone und Präfekturen ersetzten. Diese Verwaltungseinheiten bestehen überwiegend unverändert bis heute.
Willkürliche Grenzen
Nur wenige der Häuptlingstümer oder Königreiche überlebten die europäische Aufteilung in ihrer ursprünglichen Struktur – was die traditionellen Regierungssysteme weiter untergrub. Die Grenzzieher teilten die afrikanischen Gemeinschaften und ethnischen Gruppen wahllos auf. Plötzlich wurden Menschen, die eine Sprache und Kultur teilten, von unterschiedlichen Kolonialmächten regiert. Briten wie Franzosen blieben natürlich bei ihrer eigenen Sprache, ihrem eigenen Rechtssystem und ihren eigenen Verwaltungskonzepten.
Die Folgen sind bis heute spürbar. So wird Wolof in Senegal und Gambia gesprochen, Ewe in Ghana und Togo und Haussa in Niger und Nigeria. In Senegal, Togo und Niger ist Französisch Amtssprache, in den anderen drei Ländern Englisch. Weitere Beispiele für willkürliche koloniale Grenzen, die ethnische Gemeinschaften entzweiten, gibt es zuhauf.
Diese Grenzen sind bis heute dysfunktional. Supranationale Organisationen wie die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS – Economic Community of West African States) und die Afrikanische Union (AU) haben wenig zur Verbesserung beigetragen. Bürger*innen der ECOWAS-Mitgliedsländer haben jetzt zwar einen ECOWAS-Pass, aber der Personen- und Warenverkehr über die Grenzen bleibt schwierig, mit Steuern und Genehmigungen, die von Zoll- und Einwanderungsbehörden eingeholt werden müssen. Unterschiedliche Sprachen, Währungen und Gesetze erschweren die Lage zusätzlich. Nicht zuletzt behindern willkürliche Grenzkontrollen Reisen, Handel und Austausch im Bildungsbereich.
Westafrikanischen Regierungen ist ein starrer Souveränitätsgedanke nach wie vor geradezu heilig. Auch halten viele Politiker ihre Macht für grenzenlos und lassen der Öffentlichkeit, wie zuvor die Kolonialherren, kaum Mitspracherecht. Tatsächlich spuken die Geister des europäischen Kolonialismus weiterhin in Westafrika – und in anderen Teilen des Kontinents.
Baba G. Jallow ist Historiker und ehemaliger Exekutivsekretär der Kommission für Wahrheit, Versöhnung und Wiedergutmachung (TRRC) in Gambia. Er ist Mitglied der Continental Reference Group on Transitional Justice der AU.
gallehb@gmail.com