Brasilien
Brasiliens koloniales Erbe und gegenwärtige Herausforderungen
Brasilien ist seit 1822 politisch unabhängig und war seit dem frühen 16. Jahrhundert Kolonie. Die Kolonialherrschaft dauerte dort also erheblich länger, als die Unabhängigkeit bisher währt.
Das schädlichste und nachhaltigste Erbe des Kolonialismus ist zweifellos die Sklaverei. Rund 350 Jahre lang wurden schwarze Afrikaner*innen nach Brasilien gebracht, um auf Zucker-, Baumwoll- und Kaffeeplantagen sowie im Goldbergbau zu arbeiten. Brasilien war die wohl größte Sklavenkolonie der Geschichte – und das letzte Land der westlichen Hemisphäre, das die Sklaverei abschaffte, im Jahr 1888.
Die Sklaverei hatte bleibende Auswirkungen auf Brasilien und die dortige soziale und wirtschaftliche Ungleichheit sowie den Rassismus. Noch immer steht Brasilien oft auf den oberen Plätzen internationaler Ungleichheitsrankings, etwa gemessen am Gini-Koeffizienten. Oligarchen nehmen nach wie vor Einfluss auf den Staat, beeinflussen Gesetze und zweigen Ressourcen ab, selbst unter den jüngsten linken Regierungen wie der gegenwärtigen unter Luiz Inácio Lula da Silva.
Benachteiligung Schwarzer in Brasilien
Mythen über vermeintlich „wohlwollende“ portugiesische Sklavenhalter und eine „brasilianische Rassendemokratie“ halten sich hartnäckig. Zwar war der Rassismus in Brasilien im Gegensatz zu Südafrika oder den USA niemals gesetzlich verankert. Dennoch sind Schwarze in Führungspositionen, an Eliteschulen und in gut bezahlten Jobs immer noch unterrepräsentiert. Im Schnitt haben sie ein niedrigeres Bildungsniveau und verdienen weniger als Weiße in ähnlichen Positionen. Sozioökonomische Daten und andere Forschungsergebnisse zeigen, dass struktureller Rassismus fortbesteht. Er kann nicht verstanden werden, ohne das Erbe der Sklaverei anzuerkennen.
Die Erfahrungen in Südafrika und den USA zeigen nur allzu gut, wie schwer es ist, Rassismus zu überwinden. In diesen Ländern kommen neben der Sklaverei noch Jahrzehnte der Apartheid beziehungsweise von Jim-Crow-Gesetzen hinzu. Mit den Jim-Crow-Gesetzen wurde die Rassentrennung in den südlichen US-Bundesstaaten vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1960er-Jahre hinein durchgesetzt.
Wirtschaftliche Folgen der Ungleichheit
Wirtschaftshistoriker*innen zufolge ist die Ungleichheit in Lateinamerika mitverantwortlich für Brasiliens langsame Entwicklung, insbesondere im Vergleich zu den USA und Kanada. Beliebt ist der Vergleich zwischen Brasilien und den USA – beides zwei große Ex-Kolonien in Amerika, die sich aber in unterschiedliche Richtungen entwickelten. Während sich im Nordosten der USA vor allem Kleinbäuer*innen ansiedelten, wurden in Brasilien und im Süden der USA Plantagen angebaut, auf denen sowohl Sklav*innen als auch die Natur ausgebeutet wurden.
Ungleichheit hat viele negative Auswirkungen. Sie schwächt nicht nur das Wirtschaftswachstum, indem sie die Produktivität hemmt, sondern auch die Demokratie, wie bereits Alexis de Tocqueville im 19. Jahrhundert erkannte. Dies zeigt sich auch gut in der von Klientelismus geprägten, illiberalen Demokratie Brasiliens. Sie hat nicht den erhofften sozialen Wandel gebracht. Tatsächlich besteht Ungleichheit in Brasilien fort – sogar in Zeiten demokratischer Konsolidierung und von Wirtschaftswachstum.
Mit der Ungleichheit steigt häufig auch die Kriminalität. Weite Teile von Großstädten wie Rio de Janeiro werden faktisch von Drogenbanden und bewaffneten Milizen kontrolliert. Diese Situation gefährdet die Demokratie auf lokaler Ebene. Seit einigen Jahren steigt die Zahl illegaler Goldsucher*innen, Holzfäller*innen und Landbesetzer*innen, die Teil des organisierten Verbrechens sind und zunehmend den Amazonas-Regenwald ins Visier nehmen. Neben den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen wirkt sich der Kolonialismus auch negativ auf die Umwelt Brasiliens aus.
Hin zu einer nachhaltigeren Politik
So tief die kolonialen Altlasten auch verwurzelt sein mögen – sie sollten nicht zu Untätigkeit führen. Vielmehr sollten sie als Chance begriffen werden, die Ursachen für Ungleichheit und Umweltzerstörung in Brasilien besser zu verstehen. Auf dieser Basis lassen sich angemessene politische Agenden entwickeln und umsetzen.
Die Klimakrise in Brasilien verlangt nach sofortigem Handeln, doch sie birgt auch eine Chance: Wirtschaftliche Interessen und überholte Vorstellungen von Fortschritt können hinterfragt werden, um den Weg für gerechtere und nachhaltigere Entwicklungsmodelle freizumachen. Dabei bedeutet „Nachhaltigkeit“ längst nicht nur Umweltschutz. Folgt man der Definition der internationalen Gemeinschaft, umfasst sie auch soziale und wirtschaftliche Dimensionen.
Die Zerstörung des Amazonas wirkt sich unmittelbar auf die Häufigkeit und Intensität von Regenfällen aus und gefährdet dadurch die landwirtschaftliche Produktion in Brasilien. Dürreperioden mindern die Energieproduktion durch Wasserkraft, während Überschwemmungen zu massiven Vertreibungen führen. Noch nie war der Ruf nach einem neuen Entwicklungsparadigma so laut und deutlich wie heute.
André de Mello e Souza ist Ökonom am Ipea (Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada), einem staatlichen Thinktank in Brasilien.
Twitter/X: @A_MelloeSouza