Entwicklung und
Zusammenarbeit

Resilienz

Was steckt hinter der legendären Widerstandskraft junger afrikanischer Menschen?

Wenn Reisende aus Afrika zurückkehren, erzählen sie oft, dass vor allem die jungen Menschen trotz der Entbehrungen und der Armut, mit denen sie konfrontiert sind, erstaunlich glücklich wirken. Ist das wirklich so? Die kenianische klinische Psychologin Gladys K. Mwiti analysiert Faktoren, die zur Widerstandsfähigkeit der afrikanischen Jugend beitragen, darunter kulturelle Werte, Unternehmergeist, spirituelle Überzeugungen und gemeinschaftliche Bindungen.
Stimmt es, dass junge Menschen in Afrika immer ein Lächeln auf dem Gesicht haben? Wandgemälde bei Assuan, Ägypten. picture alliance / robertharding / Frank Fell
Stimmt es, dass junge Menschen in Afrika immer ein Lächeln auf dem Gesicht haben? Wandgemälde bei Assuan, Ägypten.

Jude ist der zweitälteste von vier Kindern. Als er acht Jahre alt war, verlor er beide Eltern. Nach heftigen Regenfällen stürzte das Haus in dem Dorf, in dem sie gelebt hatten, ein, und sie mussten in das halbfertige Haus umziehen, das ihre Eltern zu bauen begonnen hatten.

Die 78-jährige Großmutter übernahm die Verantwortung für Jude und seine Geschwister. Als gläubige Christin sorgte sie dafür, dass die Kinder zur Kirche gingen und an Jugendaktivitäten teilnahmen. Die ganze Familie arbeitete hart. Da sie sich keine Hilfe leisten konnten, lernten die Kinder, die kleine Farm der Familie zu bewirtschaften, wenn sie nicht in der Schule waren. Sie bauten Nahrungsmittel an, holten Wasser aus dem Fluss im Tal, sammelten Brennholz und erledigten den gesamten Haushalt. Jude nahm sogar Gelegenheitsjobs im Dorf an. Später meldete er sich an einer fast zehn Kilometer entfernten Tagesschule an, die er jeden Tag zu Fuß besuchte. Seine Großmutter unterstützte ihn mit dem Wenigen, das sie hatte, und hin und wieder half ihm ein wohltätiger Mensch. Jude lernte fleißig; nach seinem Abschluss konnte er an seiner Schule Jobs übernehmen, zum Beispiel arbeitete er im Wissenschaftslabor mit.

Mit dem bisschen Geld, das er verdiente, gelang es ihm, im Rahmen eines Ferienprogramms eine Lehrerausbildung zu beginnen, die er vor einigen Jahren abschloss. Das Haus seiner Eltern hat er ebenfalls fertiggebaut. Nun baut er sich sein eigenes Haus auf demselben Grundstück; gelegentlich helfen ihm junge Leute aus der Kirche. Leider verstarb seine Großmutter im vergangenen Jahr mit fast 100 Jahren. Jude will bald heiraten.

Gründe für Resilienz

Was hat dazu beigetragen, dass Jude so widerstandsfähig ist? Vor allem wurde der junge Mann von seiner Großmutter emotional unterstützt. Er und seine Geschwister arbeiteten eng miteinander und hielten zusammen. Er war nie allein. Seine Großmutter bot ihm ein sicheres Umfeld, in dem er auch über seine Probleme sprechen konnte. Seine Freund*innen und die erweiterte Familie bildeten ein starkes Netzwerk, gemäß dem alten afrikanischen Sprichwort: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.

In vielen afrikanischen Kulturen ist es Tradition, die Familienlinie zu erhalten; als einziges männliches Kind spielt Jude für das Erbe seiner Familie eine wichtige Rolle. Er nahm die Verantwortung an, den Familiennamen weiterzuführen – das war für ihn ein sinnstiftender Moment, das er nicht aufgeben konnte. Und schließlich ist da noch die Religion: Als Christ schöpft Jude Kraft aus seinem Glauben an Gott.

Resilienz bezeichnet die Fähigkeit einer Person, sich an Stressfaktoren erfolgreich anzupassen und trotz widriger Umstände ihr psychisches Wohlbefinden zu erhalten. Diese Personen schaffen es, sich von schwierigen Lebenserfahrungen zu erholen.

Wie Jude sind viele junge Menschen in Afrika mit etlichen existenziellen Herausforderungen konfrontiert – darunter Verlust und Trauer, Armut, Arbeitslosigkeit, politische Instabilität und mangelnder Zugang zu hochwertiger Bildung und Gesundheitsversorgung. Andere sind von Klimawandel, Konflikten und Diskriminierung betroffen. Doch auch wenn die psychische Gesundheit junger Afrikaner*innen sicherlich komplex und vielschichtig ist, so lässt sich doch festhalten, dass viele von ihnen bemerkenswert achtsam und belastbar sind.

Soziokultureller Kontext: Ubuntu

Der soziokulturelle Kontext beeinflusst die psychische Gesundheit und Resilienz afrikanischer Jugendlicher enorm. Viele afrikanische Gesellschaften legen großen Wert auf Gemeinschaft und gegenseitige Unterstützung und schaffen so ein Sicherheitsnetz für junge Menschen. Ältere Generationen lassen die Jüngeren nicht im Stich. Es kommt selten vor, dass Jugendliche mit 18 Jahren schon in die Welt hinausgeschickt werden, um für sich selbst zu sorgen.

Familienfeiern wie Hochzeiten, Beerdigungen und Übergangsriten machen jungen Menschen bewusst, dass sie das Erbe ihrer Eltern – ob noch am Leben oder schon verstorben – und ihrer Familien fortführen. Diese Gemeinschaftsereignisse stärken die Familienstrukturen und verbessern die sozialen Bindungen, wodurch ein Gefühl der Zugehörigkeit und Unterstützung entsteht. Das kann helfen, Gefühle von Isolation und Angst zu lindern. Die Kulturwissenschaften sehen gemeinschaftliche Aktivitäten, traditionelle Zeremonien sowie Rituale nicht nur als Erfahrungen, die den sozialen Zusammenhalt stärken, sondern auch als Gelegenheiten, Emotionen auszudrücken und diejenigen zu stärken, die es schwer haben.

Kulturelle Werte wie Stärke, Ausdauer und Anpassungsfähigkeit, die Resilienz bei jungen Menschen fördern, werden so betont. Afrikanist*innen heben den „Umuntu“- oder „Ubuntu“-Gedanken hervor: Mitgefühl und Verbundenheit, die durch gemeinsame Erfahrungen verstärkt werden, zählen mehr als Individualismus. Einzelne werden dazu ermutigt, Gemeinschaft zu suchen und sich gegenseitig zu unterstützen – nicht nur in schwierigen Zeiten. Das stärkt die kollektive Widerstandsfähigkeit.

Unternehmergeist 

Allerdings können sich auch in Afrika nicht alle auf die typischen gemeinschaftlichen Netzwerke und deren Unterstützung verlassen. Moses ist Uber-Fahrer und das älteste Kind in seiner Familie. Als er 16 Jahre alt war, starben seine beiden Eltern an Covid-19. Moses hat zwei jüngere Brüder. Er hatte keine traditionelle Großfamilie, die ihn unterstützte, denn seine Eltern waren in jungen Jahren in die Stadt gezogen und hatten in einem Slum gelebt, weit weg vom Sozialgefüge des Dorflebens.

Als Moses die Verantwortung für seine Geschwister übernehmen musste, ging er von der Schule ab und begann, auf einer Baustelle zu arbeiten. Er schleppte Steine und mischte Beton. Der Bauunternehmer sah, wie hart und engagiert er arbeitete, und machte ihn zum Geschäftsführer eines Baumarkts, der ihm gehörte. Mit seinem Verdienst finanzierte Moses die Ausbildung seiner Geschwister. Er nahm zudem Fahrstunden, machte seinen Führerschein und schaffte es, genug Geld zu sparen, um eine Anzahlung auf sein erstes Auto zu leisten. Heute ist er ein erfolgreicher Uber-Fahrer, hat ein Auto abbezahlt und besitzt ein zweites auf Kredit. Er plant, seinen Fuhrpark zu erweitern. Von seinen Brüdern hat der Mittlere das College abgeschlossen und arbeitet; der Jüngste studiert noch. Moses ist gläubiger Christ, verheiratet und hat ein Kind.

Moses steht für viele andere junge Menschen in Afrika, die trotz der großen wirtschaftlichen Herausforderungen des Kontinents unternehmerisch agieren und so ihren geistigen Fokus schärfen und ihre Resilienz erhöhen. In Kenia nennt man harte Arbeit trotz widriger Umstände „Hustling“ und versteht das als Lebensform. So gesehen ermöglichen informelle Wirtschaft und Unternehmertum es jungen Menschen, ihre wirtschaftliche Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Das stärkt ihr Gefühl der Selbstwirksamkeit und ihre Motivation – und macht sie zudem stolz. Studien deuten darauf hin, dass es für die psychische Gesundheit förderlich sein kann, unternehmerisch zu handeln, da es das Gefühl geben kann, etwas Sinnvolles zu tun und etwas zu erreichen. 

Spiritualität

Spiritualität ist in Afrika über alle Generationen hinweg tief verwurzelt. Viele junge Menschen in Afrika üben spirituelle Praktiken aus, zum Beispiel beten sie. Das gibt ihnen Trost und das Gefühl von Kontrolle über ihre Lebensumstände. Viele Studien bringen Spiritualität und Religion mit Resilienz in Verbindung, da sie Hoffnung und Sinn geben können – und einen Rahmen dafür bieten, die Herausforderungen des Lebens zu bewältigen.

Die Rolle von Social Media

Moderne Technologien und Social Media beeinflussen die psychische Gesundheit der afrikanischen Jugend stark. Auch wenn die Sorge über negative Aspekte wie Cybermobbing berechtigt ist, bietet Social Media im afrikanischen Kontext eine weitere Plattform, um sich zu vernetzen, Informationen auszutauschen und die psychische Gesundheit zu stärken. Social Media erleichtert es, sich zu vernetzen und Systeme der Unterstützung zu schaffen, was die Ubuntu-Lebensweise erweitert und in die Online-Welt überführt.

Online-Gemeinschaften wie WhatsApp-Gruppen können Einzelne unterstützen, indem sie einen Raum bieten, um Erfahrungen und Bewältigungsstrategien auszutauschen – und um ein Gemeinschaftsgefühl auch über große Distanzen hinweg aufrechtzuerhalten. Junge Menschen in Afrika nutzen Social Media oft anders, als es einige aus ihrer Altersgruppe im Westen tun: nicht als Medium zum Vergleich und um Hass und Hetze zu verbreiten, sondern mit Fokus auf den „sozialen“ Aspekt. Das wurde erneut während der letzten, von Jugendlichen angeführten Proteste in Kenia deutlich, die sich auf Social-Media-Plattformen organisierten.

All diese Aspekte anzuerkennen und zu fördern, ist immens wichtig, um das psychische Wohlbefinden junger Menschen auf dem gesamten Kontinent zu verbessern. Letztlich wird das den Weg für eine bessere Zukunft ebnen – für das Individuum wie für die Gemeinschaft.

Links

Ajitoni, B. D., 2024: Ubuntu and the Philosophy of Community in African Thought: An Exploration of Collective Identity and Social Harmony. Journal of African Studies and Sustainable Development, 7, 3. ISSN Online: 2630-7073. 
www.apas.africa/journals.php

Naslund, J.A., Bondre, A., Torous, J., & Aschbrenner, K.A., 2020: Social media and mental health: benefits, risks, and opportunities for research and practice. Journal of Technology & Behavioral Science, 5, 245–57. 
https://doi.org/10.1007/s41347-020-00094-8

Tisu, L., Virga, D., & Taris, T., 2023: Entrepreneurial well-being and performance: antecedents and mediators. Organizational Psychology, 14
https://doi.org/10.3389/fpsyg.2023.1112397

Gladys K. Mwiti ist klinische Psychologin und Gründerin von Oasis Africa Wellness in Nairobi.
glmwiti@oasisafrica.co.ke  

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