Rechtsstaatlichkeit
Musk gegen Moraes
Seit Elon Musk im Jahr 2022 X übernommen hat, steht die Plattform wegen kontroverser Inhalte – meist politischer Art – in der Kritik. Musk behauptet, die Plattform sei neutral, aber sie hat nie verhehlt, Donald Trump zu unterstützen. Nachdem Musk die Plattform gekauft hatte, war Trumps Profil zügig wieder freigegeben worden. Twitter hatte sie nach der Erstürmung des Kapitols in Washington am 6. Januar 2021 gesperrt. Auch gesperrte Profile weiterer Personen, die in den Aufstand verwickelt waren, wurden unter Musk entsperrt.
Zwar sind weniger als ein Drittel der Beiträge auf X politisch, aber der Algorithmus bevorzugt häufig politische Inhalte, sodass sie fast die Hälfte der Gesamtmenge in den Feeds ausmachen. Neue X-Nutzer*innen, die sich für Handwerk, Sport oder Kochen interessieren, werden mit politischen Inhalten bombardiert. Unter Musk ist X deutlich politischer geworden.
Botschaften auf X zu bewerben, kostet Geld. David Corn, der für das in San Francisco ansässige Magazin Mother Jones arbeitet, schätzt, dass die Unterstützung, die Trump allein durch Musks persönliches X-Profil erhielt, im Laufe des Wahlkampfs vermutlich etwa 100 Millionen Dollar wert war – wenn nicht gar doppelt so viel.
Auch Brasiliens Rechtsextreme haben X ausgiebig genutzt. Nachdem Ex-Präsident Jair Bolsonaro die Wahlen im Oktober 2022 verloren hatte, ahmten seine Anhänger*innen fast genau zwei Jahre später, am 8. Januar 2023, das nach, was am 6. Januar 2021 in Washington geschehen war. Ihr Putschversuch scheiterte, aber X half maßgeblich bei der Mobilisierung. Brasiliens rechte Strateg*innen setzen schon seit Jahren auf Online-Plattformen.
Redefreiheit
Anonyme Verbreitung von Desinformation und Hassrede ist in den USA erlaubt – in Brasilien nicht. In den USA ist das verfassungsmäßige Recht auf freie Meinungsäußerung weiter gefasst als in Brasilien. Brasilianer*innen dürfen ihre Meinung frei äußern, anonyme Online-Postings jedoch sind verboten. Wer die Meinungsfreiheit für destruktive und kriminelle Zwecke missbraucht, kann somit zur Rechenschaft gezogen werden.
Den Brasilianer*innen sind ihre Grundrechte sehr wichtig. Das Land stand 21 Jahre lang, bis 1985, unter Militärherrschaft. In Bolsonaros erster Amtszeit wurde seine Vorliebe für die Diktatur sichtbar und auch, dass er selbst eine Gefahr für die Demokratie darstellte. Das war ein Grund für seine Niederlage 2022.
Nach dem Aufstand in Brasília handelte der Oberste Gerichtshof schnell und entschieden zum Schutz der Verfassung, und Richter Alexandre de Moraes spielte eine führende Rolle. Das war wichtig, da Bolsonaro während seiner Präsidentschaft viele staatliche Institutionen vereinnahmt hatte. Anders als in den USA arbeitete das brasilianische Rechtssystem den gescheiterten Staatsstreich schnell auf und verhinderte eine erneute Kandidatur des Rechtspopulisten innerhalb der nächsten 20 Jahre.
Blockierung von X
Dieser Geisteshaltung entspringt auch die Forderung des Obersten Gerichtshofs, dass X brasilianische Gesetze einzuhalten hat. Der amerikanische Plutokrat Musk aber hob das Verbot von Twitter, den Inhalt von Beiträgen zu beschränken, auf. Wie in den USA behielt und reaktivierte er zudem Profile, deren Schließung brasilianische Gerichte angeordnet hatten.
Musk warf den Richtern in X-Posts „Zensur“ vor und behauptete, sie würden „brasilianisches Recht verletzen“. Er kündigte an, brasilianische Gerichtsentscheidungen zu missachten.
Anfang April 2024 ordnete Moraes eine Untersuchung gegen Musk an wegen Behinderung der Justiz, Anstiftung zu Straftaten und Missbrauchs wirtschaftlicher Macht. Zudem verhängte er eine Geldstrafe von 100 000 BRL (etwa 17 000 Dollar) für jedes reaktivierte Profil. Später ordnete er auch an, Vertreter von X im Land zu verhaften, falls die Plattform den richterlichen Entscheidungen nicht nachkommt.
Im August verkündete X die Schließung seines Büros in Brasilien. Zehn Tage später wies der Oberste Gerichtshof Musk an, innerhalb von 24 Stunden einen neuen Rechtsvertreter zu benennen. Das geschah nicht. Damit riskierte Musk die Sperrung von X. Er bezeichnete das als schwierige Entscheidung, erklärte aber: „Hätten wir Alexandre de Moraes' heimlicher (illegaler) Zensur und der Forderung, private Informationen freizugeben, zugestimmt, hätten wir unser Handeln nicht erklären können, ohne uns zu blamieren.”
Am 30. August ordnete der Oberste Gerichtshof die komplette Sperrung von X in Brasilien an. Moraes gab Anweisungen an Apple, Google und Anbieter, wie sie vorgehen sollten, um den Zugang zur Plattform im Land zu verhindern. Einzelpersonen und Firmen, die VPNs oder andere Technologien für den Zugang zu X nutzten, sollten Geldstrafen von 50 000 BRL pro Tag erhalten. X habe das brasilianische Recht und Anordnungen des Obersten Gerichtshofs nicht eingehalten, begründete die Justiz ihr Vorgehen.
Laut brasilianischer Bundespolizei erlaubte X trotzdem mindestens sechs von der Justiz gesperrten Profilen, live an brasilianische Zuschauer*innen zu senden. Da es bei der Sperrung von X technische Probleme gab, konnten die Nutzer*innen weiterhin darauf zugreifen. Am 9. September wies Moraes die Bundespolizei an, Erklärungen dazu von X zu fordern, und verhängte zusätzliche Geldstrafen in Höhe von umgerechnet 1,7 Millionen Dollar.
Für den Multimilliardär ist das nicht viel. Trotzdem zahlte X nicht. Moraes ordnete daraufhin an, Gelder der Konten von X in Brasilien zu sperren – sowie vom ebenfalls Musk gehörenden Internetanbieter Starlink. Rechte Aktivist*innen demonstrierten für Musk.
Musk macht einen Rückzieher
X blieb in Brasilien 39 Tage gesperrt. Am 20. September ernannte die Plattform eine neue Rechtsvertreterin in Brasilien: die Anwältin Rachel de Oliveira Villa Nova Conceição. X sperrte auch Profile, von denen der Oberste Gerichtshof gesagt hatte, sie verbreiteten Fake News, riefen zu Gewalt auf oder schürten Hass. Die Entsperrung von X machte Moraes davon abhängig, dass die Plattform alle Geldstrafen bezahlte – zu diesem Zeitpunkt 18,3 Millionen BRL. Erst nachdem X allen Gerichtsentscheidungen nachgekommen war, wurde die Plattform wieder freigegeben.
Musks Rückzug könnte mehrere Gründe gehabt haben: Druck von Investoren, das Ausschöpfen rechtlicher Möglichkeiten und internationale Kritik etwa. Das Forschungsunternehmen DataReportal schätzt, dass Brasilien international die sechstgrößte Anzahl von Profilen auf X hat. Im Januar 2024 hatte X 22,1 Millionen brasilianische Nutzer*innen – sechs Prozent der Konten weltweit. Neben großen finanziellen Werbeverlusten hätte es auch einen Wettbewerbsnachteil gebracht, X einzustellen, da konkurrierende Plattformen ihren Anteil in Brasilien hätten erhöhen können.
Internationale Auswirkungen
Nationalstaaten können anstößige Plattformen abschalten. Das wird zwar immer wie Zensur aussehen, aber irgendwie müssen sie dafür sorgen, dass ihre Regeln eingehalten werden. Die dominierenden Internetkonzerne nutzen globale Geschäftsmodelle und scheren sich wenig darum, wie kleine Märkte reguliert werden. Allerdings reagieren sie auf Rechtsschritte in wichtigen Märkten wie Brasilien. In vielen anderen Ländern aber verbreiten sich Lügen und Hass, die Musk auf seiner Plattform zulässt, uneingeschränkt.
Die EU verabschiedete 2023 den Digital Services Act. Das Gesetz über digitale Dienste soll Internetplattformen regulieren, die so viele Nutzer*innen haben, dass sie monopolistische oder oligopolistische Macht erlangen. Leider ist es nicht selbstverständlich, dass EU-Institutionen ihre Regeln durchsetzen, wenn sie dafür gegen jemanden wie Musk vorgehen müssen.
Im August trat Thierry Breton wütend von seinem Amt als EU-Binnenmarktkommissar zurück. Er hatte Musk öffentlich an EU-Vorschriften erinnert und dafür Kritik geerntet. Vor einem Interview des Milliardärs mit Donald Trump auf X hatte Breton Musk gewarnt, dass die EU-Regeln es ihm verböten, Lügen zu verbreiten. Setzen Behörden ein Gesetz aber nicht klar durch, wird es schnell zahnlos.
Wird die EU das Gesetz über digitale Dienste nutzen, um gefährliche rechte Propaganda einzudämmen? Zumindest hoffen Beobachter*innen in anderen Weltregionen, dass sie mit gutem Beispiel vorangeht.
André de Mello e Souza ist Wirtschaftswissenschaftler bei Ipea (Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada), einer staatlichen Denkfabrik in Brasilien.
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