Entwicklung und
Zusammenarbeit

Ermächtigung der Frauen

Schädliche Klischees über algerische Studentinnen

In der konservativen Gesellschaft Algeriens hält sich das Klischee der sexuell verfügbaren und unverheiratbaren Studentin. Das hat drastische Folgen für junge, aufstrebende Frauen.
Studierende an der Universität Algier. picture alliance / AA / Mousaab Rouibi Studierende an der Universität Algier.

„Kommt her! Hört, was „Houari“, der Krankenwagenfahrer, treibt! Sein (Houaris) Krankenwagen steht immer vor den Studentinnen-Wohnheimen, um die „Mädchen“ vom Campus zum Kabarett zu bringen!“. Dieser Text eines auf Youtube populären Liedes beschreibt ein Klischee über algerische Studentinnen, das sich seit einem aufsehenerregenden Bericht im algerischen Fernsehen im Jahr 2013 hartnäckig hält. In dem provozierend titulierten Bericht „Wenn Wissenssuchende Prostituierte werden“ (übersetzt aus dem Arabischen) wurde Studentinnen in Universitätswohnheimen unterstellt, Krankheit vorzutäuschen, um sich nachts aus dem Haus zu schleichen. In diesem Narrativ bringt der Krankenwagenfahrer „Houari“ sie nach der Ausgangssperre heimlich nicht in die Klinik, sondern in ein Kabarett zu Treffen mit Intimpartern.

Für die konservative algerische Gesellschaft ist das ein schwerer moralischer Verstoß, und aus den Behauptungen wurde rasch ein schädliches Klischee. Auf Online-Plattformen wie Facebook wurden weitere diffamierende Inhalte gepostet, in weiteren Liedern auf YouTube Studentinnen verunglimpft. Der damalige Minister für Hochschulbildung, Mohamed Mebarki, verurteilte den Bericht öffentlich, nannte ihn haltlos und eine unfaire Verleumdung algerischer Studentinnen. Zudem kündigte er rechtliche Schritte gegen den verantwortlichen Sender an.

Dieser Vorfall offenbart die tief verwurzelten patriarchalischen Normen in Algerien, wo öffentliche Räume als männlich und private Räume als weiblich gelten. Seither sind die sozialen Medien ein Schlachtfeld, auf dem diese Stereotypen kontinuierlich erzeugt und verstärkt werden, was Selbstbild, Sicherheit und Bildungserfahrungen der Frauen prägt. Ich führte Gespräche mit dreizehn algerischen Studentinnen darüber, wie diese Stereotypen ihren sicheren Zugang zu Hochschulbildung beeinträchtigen.

Stereotype über algerische Studentinnen

Meine Interviewpartnerinnen, die in diesem Text anonymisiert zu Wort kommen, begegnen häufig drei Hauptstereotypen in den sozialen Medien, die sie als moralisch fragwürdig, nicht heiratsfähig und opportunistisch darstellen.

  1. Sexuelle Verfügbarkeit: Viele glauben, junge Frauen in Universitätsunterkünften seien „sexuell verfügbar“ – ein Stereotyp, das auf der Vorstellung beruht, dass sie sich heimlich mit intimen Partnern treffen. Laut Maria, mit der ich sprach, bedroht diese Vorstellung die Sicherheit der Studentinnen, denn bisweilen lungern Männer um die Wohnheime herum, belästigen Frauen und rauben ihnen ihr Sicherheitsgefühl in Räumen, die eigentlich für Lernen und Entfaltung gedacht sind. Eine andere Interviewpartnerin, Sunflower, merkte an, dass geschlechtsspezifische Belästigung in Algerien, wo öffentliche Räume weitgehend als Männerdomäne betrachtet werden, oft normal ist. Diese Wahrnehmung, so Sunflower, erschwert den Frauen sicheren Zugang zu ihren Bildungseinrichtungen weiter. 
  2. Unverheiratbarkeit: In den sozialen Medien heißt es oft, Frauen, die in Wohnheimen leben, hätten nicht die von einer künftigen Ehefrau erwarteten häuslichen Fähigkeiten oder „Ehre“. Die Befragten erzählten, dass potenzielle Verehrer von ihren Familien daran gehindert werden, eine Beziehung zu Studentinnen einzugehen, und zwar nur weil sie studieren oder außerhalb der familiären Überwachung wohnen, was das Klischee verstärkt, sie seien für die Ehe ungeeignet. Dieses Narrativ lässt Frauen eine falsche Wahl: Sie müssen sich zwischen Bildung und Heirat entscheiden. Ihr Recht auf beides ist eingeschränkt.
  3. Instrumentalisierung für Erfolg: Studentinnen wird oft unterstellt, ihre vermeintliche „sexuelle Verfügbarkeit“ für akademische oder berufliche Vorteile zu nutzen. Das impliziert, ihr Erfolg sei unverdient, und untergräbt ihre Leistung.

Bildung als Weg zu persönlichem und gesellschaftlichem Wachstum

Diese Klischees beeinträchtigen das Wohlbefinden der Frauen weit über das Studium hinaus, sie fühlen sich abgewertet und frustriert. Aya, eine weitere Gesprächspartnerin, beschrieb, wie diese Stereotypen den Wert der sozialen Beiträge von Frauen schmälern, was oft zu Wut und Hoffnungslosigkeit angesichts des fehlenden gesellschaftlichen Respekts führt. 

Für die befragten Frauen bedeutet Bildung nicht nur akademischen Erfolg, sondern ist ein Weg zu finanzieller Unabhängigkeit, fundierter Entscheidungsfindung und aktivem Engagement im gesellschaftlichen und beruflichen Leben. Besonders die finanzielle Unabhängigkeit, die meine Gesprächspartnerinnen als Ergebnis einer Erwerbstätigkeit nach der Ausbildung sehen, gibt ihnen die Möglichkeit, sich von der männlichen Kontrolle in einer Gesellschaft zu lösen, in der das Paradigma des männlichen Versorgers und der weiblichen Betreuerin aufrechterhalten wird. Tulip, mit der ich auch sprach, nannte Bildung eine „Waffe“ gegen das Patriarchat und unterstrich, dass finanzielle Unabhängigkeit Sicherheit bedeutet sowie eine Chance, ihr Leben so zu gestalten, wie sie will, jenseits der traditionellen Geschlechterrollen.

Um Bildungsgerechtigkeit in Algerien zu schaffen, müssen sich Frauen, feministische Aktivist*innen, Forscher*innen und Politikverantwortliche zusammentun. Vor allem Aktivistinnen müssen die Dringlichkeit dieses Themas erkennen und sich fragen: Wo ist die algerische Frauenbewegung, die sich einst gegen den französischen Kolonialismus, das restriktive Familiengesetz von 1984 und den Bürgerkrieg in den 1990er-Jahren zur Wehr setzte (siehe Kasten)? Warum setzt sie sich jetzt nicht mit einem Phänomen auseinander, das die Bildung von Frauen bedroht, die überall als die beste Investition der Welt angepriesen wird?

Khadidja Kelalech ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität von Leicester, UK, und forscht zu Frauenthemen in der MENA-Region mit Fokus auf Algerien.

kelalechkhadidja@gmail.com