Entwicklung und
Zusammenarbeit

Technologie und Ethik

„Datenkompetenz bedeutet, Menschen zu informierten, aktiven Bürger*innen zu machen“

Irene Mwendwa ist Geschäftsführerin der zivilgesellschaftlichen Organisation Pollicy, einem feministischen Kollektiv mit Afrika-Fokus an der Schnittstelle von Daten, Design und Technologie. In diesem Interview schildert sie ihre Vision von einem ethischen Umgang mit Technologie und spricht über ihre Erfahrungen im Kampf gegen Desinformation und für das Empowerment von Menschen – insbesondere Frauen – aus Afrika, damit sie sich gegen ungerechte politische Maßnahmen wehren können.
Im Netz grassieren Desinformation und Fake News, und digitale Medienkompetenz ist nötiger denn je. picture alliance/Hans Lucas/Martin Bertrand
Im Netz grassieren Desinformation und Fake News, und digitale Medienkompetenz ist nötiger denn je.

Irene Mwendwa im Interview mit Milena Kaplan

Was sind die aktuellen Herausforderungen für Kenia und den Globalen Süden hinsichtlich Desinformation und künstlicher Intelligenz (KI)?

In Kenia und weiten Teilen des Globalen Südens verbreitet sich Desinformation schnell – besonders auf Plattformen wie Facebook oder TikTok, deren Algorithmen die spektakulärsten Inhalte belohnen. Wegen der geringen digitalen Kompetenz und der begrenzten Überprüfung von Fakten in lokalen Sprachen wie Kisuaheli oder Sheng bleiben falsche Narrative oft unentdeckt. Das kann sogar ethnische Spannungen schüren oder Wahlen beeinflussen. Bei der KI haben wir es mit Hilfsmitteln zu tun, die auf verzerrten Datensätzen basieren. Sie bilden die afrikanische Realität nicht ab, was zum Beispiel zu einer Gesichtserkennungstechnologie führt, die sich mit dunkleren Hauttönen schwertut. Hinzu kommen unzureichende KI-Vorschriften und Praktiken der Datengewinnung – beispielsweise werden Gigarbeiter*innen in Nairobi, die globale KI-Systeme trainieren, unterbezahlt. Wir haben also ganz offensichtlich nicht nur ein technisches Problem, sondern auch ein Gerechtigkeitsproblem.

Warum ist Datenkompetenz so entscheidend, um die Auswirkungen von Desinformation einzugrenzen?

Datenkompetenz ermöglicht es den Menschen, innezuhalten, zu hinterfragen und zu überprüfen, statt einfach auf „Teilen“ zu klicken. Sie hilft Gemeinschaften, zu verstehen, wie Daten verdreht oder missbraucht werden können – sei es beim Erkennen eines Deepfakes oder beim Aufzeigen von verzerrten Statistiken. Noch wichtiger ist, dass sie das Selbstvertrauen stärkt, Plattformen oder politische Maßnahmen zu hinterfragen, die den Menschen nicht dienlich sind. Das hat sich deutlich bei Pollicy-Initiativen gezeigt, wie etwa unserem Kartenspiel „Digital Safe Tea“, das diese Konzepte besonders für Jugendgruppen und lokale Gemeinschaften zugänglich und ansprechend macht.

Warum lässt sich Datenkompetenz so schwer auf breiter Basis fördern – vor allem im Globalen Süden?

Es ist schwierig, weil viel dagegen arbeitet. Viele Schulen haben keinen ausreichenden Internetzugang und keine zeitgemäßen Lehrpläne. In ländlichen Gebieten haben vor allem Mädchen oft kaum Zugang zu digitalen Werkzeugen. Hinzu kommt die Sprachhürde – viele Angebote sind auf Englisch oder Französisch, was große Teile der Bevölkerung ausschließt. Zudem sitzt das Misstrauen gegenüber Institutionen tief. Das lässt sich mit der langen Geschichte der Ausbeutung erklären.

Gibt es denn Beispiele, in denen Datenkompetenz wirklich etwas bewirkt hat?

Auf jeden Fall. Besonders hervorzuheben ist die Afrofeminist Internet Scorecard von Pollicy. Sie ermöglichte es afrikanischen Frauen aus sieben Ländern und LGBTQ+-Gemeinschaften, zu bewerten, wie sie auf digitalen Plattformen behandelt werden. Das führte zu echten politischen Diskussionen in Ländern wie Uganda und Kenia. Eine andere spannende Initiative ist das Voice Data Literacy Training Program, das auf Capacity Building setzt und einen praxisnahen Kurs anbietet, der jungen Leuten grundlegende Datenkompetenzen vermittelt. Sie lernen in diesem kostenlosen Kurs, Daten effektiv zu sammeln, zu analysieren und zu visualisieren – mit Programmen wie Microsoft Excel und Google Sheets. Das ist besonders wirkungsvoll, weil es den jungen Teilnehmenden ermöglicht, professionelle Policy Briefs zu erstellen und Forschungsergebnisse klar und deutlich an Entscheidungsträger*innen zu kommunizieren. Um den Lernprozess zu unterstützen, erhalten die Teilnehmenden Zugang zu realen Datensätzen.

Was hat das alles mit Bürgerbeteiligung und integrativem Engagement zu tun?

Datenkompetenz bedeutet im Kern, Menschen zu informierten, aktiven Bürger*innen zu machen. Wenn sie verstehen, wie Daten ihr Leben prägen – von der Kreditvergabe bis hin zu den Inhalten, die sie im Internet angezeigt bekommen –, können sie ihre Meinung äußern, sich organisieren und besser Forderungen stellen. Diese Art von Engagement ist für eine integrative Regierungsführung sehr wichtig. Projekte wie das Dear Tech Diary von Pollicy zeigen, wie viel es bringt, Stimmen aus dem Alltag in Gespräche über Technologie und Rechenschaftspflicht einzubeziehen.

Welche Rolle können Entwicklungsorganisationen wie das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) bei der Förderung integrativer digitaler Ökosysteme spielen, und wie können sie sicherstellen, dass im KI-Zeitalter niemand abgehängt wird?

Organisationen wie das UNDP können viel verändern, indem sie Innovationen an der Basis finanzieren und sich auf lokale Fachleute verlassen. Die Arbeit von Pollicy ist ein sehr gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn Gemeinschaften Führungsverantwortung übernehmen und sich an der gemeinsamen Entwicklung von Ressourcen wie dem Africa Data Governance Knowledge Hub beteiligen, die auf reale Bedürfnisse zugeschnitten sind. Neben der Finanzierung sollten Entwicklungsorganisationen sicherstellen, dass Frauen, Jugendliche und ländliche Gemeinschaften nicht nur in die Politikgestaltung einbezogen werden, sondern im Mittelpunkt stehen. Sie haben auch die Macht, auf globale Standards zu drängen, bei denen der Mensch an erster Stelle steht – nicht Gewinne oder technische Effizienz.

Wie sollten KI-Systeme trainiert werden, um unterschiedliche Realitäten widerzuspiegeln? Und welche Rolle spielen Datenqualität und -darstellung?

Es fängt mit der Frage an, wer Daten gestalten darf. Warum nicht Gemeinschaften in die Erstellung und Überprüfung von Datensätzen einbeziehen, statt Inhalte ohne Zustimmung auszulesen? Das haben wir von Pollicy in unserer Arbeit mit Gigworker*innen und digitalen Arbeitnehmer*innen durch unser Fair Digital Kazi Manifesto betont. Qualität ist wichtiger als Quantität: Ein KI-System, das an 1000 verschiedenen, gut dokumentierten Beispielen trainiert wurde, ist besser als eines auf Basis von 10.000 zufälligen Beispielen. Auch Lokalbezug ist entscheidend: Eine KI, die Kisuaheli-Slang oder regionale Eigenheiten versteht, wird immer besser abschneiden als generische globale Modelle. Und vergessen wir nicht den Aspekt der Kontrolle: Die Zivilgesellschaft muss mit am Tisch sitzen, damit es fair und transparent zugeht.

Das UNDP und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) haben die Hamburg Declaration on Responsible AI for the SDGs aufgesetzt. Die Erklärung bringt Entscheidungsträger*innen aus Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft zusammen, um sicherzustellen, dass KI fair, inklusiv und nachhaltig eingesetzt wird. Sie wird auf der Hamburg Sustainability Conference im Juni 2025 verabschiedet, zu der auch Sie als Sprecherin eingeladen sind. Wie beurteilen Sie die Erklärung hinsichtlich ethischer und nachhaltiger KI?

Die Werte hinter der Hamburg Declaration – Menschenwürde, Inklusivität, Nachhaltigkeit – passen gut zu Pollicys feministischer Vision für ethische Technologie. Aber solche Erklärungen werden nur dann ihrem Anspruch gerecht, wenn sie vor Ort tatsächlich etwas verändern. Das bedeutet: die Stimmen des Globalen Südens bei der Politikgestaltung in den Mittelpunkt zu stellen, Rechenschaft über Datenausbeutung in der Vergangenheit abzulegen und Wege zu entwickeln, um die Auswirkungen – nicht nur die technologische Leistung – durch eine intersektionale Brille zu betrachten. Der Ansatz von Pollicy, Machtstrukturen zu überdenken und Fürsorge in den Mittelpunkt zu stellen, ermöglicht eine praktische Umsetzung dieser Grundsätze.

Links
pollicy.org
bmz-digital.global/en/hsc/ 

Irene Mwendwa ist Juristin und Geschäftsführerin der zivilgesellschaftlichen Organisation Pollicy. Sie berät Regierungen, zivilgesellschaftliche Akteure und multilaterale Organisationen zu digitaler Integration, Wahlen und Technologiepolitik.
info@pollicy.org 

An diesem Interview hat Irene Mwendwas Kollegin Maureen Kasuku mitgewirkt.

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