Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Moderne Zeiten

Zeitdruck macht Demokratie zunehmend dysfunktional

Zeitdruck ist ein wenig bemerkter Grund dafür, dass Demokratie in den Augen vieler Menschen Glaubwürdigkeit verliert. Demokratische Entscheidungen erfordern Zeit und halten mit rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen kaum noch mit. Das lässt gewählte Regierungen dysfunktional erscheinen. Zugleich unterhöhlt der Zwang, sich an neue soziale Gegebenheiten anzupassen, das Selbstwertgefühl vieler Menschen und macht sie für autoritäre Identitätspolitik anfällig.
Auf allen Kontinenten wächst der Zeitdruck. picture alliance / ZUMAPRESS.com / Luca Ponti Auf allen Kontinenten wächst der Zeitdruck.

Der technische Wandel mit weitreichenden Folgen für Kultur, Märkte, Recht und Gesellschaft allgemein verläuft schnell. Demokratische Entscheidungsfindung erfordert dagegen viel Zeit. Gewählte Amtstragende stehen vor neuartigen Problemen, für die es noch keine etablierten Lösungen gibt. 

Es dauert, bis eine politische Strategie formuliert, verabschiedet und schließlich implementiert wird. Zunächst müssen neue Phänomene analysiert werden. Dann können Maßnahmen konzipiert werden. Erst danach können Verantwortliche geeignete Optionen auswählen und müssen dann andere davon überzeugen. Das alles kann so lange dauern, dass sich die neuen Herausforderungen schon wieder verändert haben, bevor eine Reform überhaupt beschlossen ist.

So kommt es zum Beispiel, dass trotz schneller Eskalation der Folgen der Erderhitzung zu wenig in Sachen Klimaanpassung und Klimaschutz geschieht. Neue Wirtschaftszweige entstehen, aber andere brechen zusammen. Migration verändert Gesellschaften, aber zugleich bedeutet der demografische Wandel, dass mehr Pflegekräfte gebraucht werden. Bis eine Politik umgesetzt wird, kann sie bereits überholt sein.

Bei der Digitalisierung ist das besonders offensichtlich. Andere Veränderungen verlaufen nicht ganz so schnell, aber die Wirkung zeigt sich oft plötzlich. Das ist der Fall, wenn Extremwetter erstmals die bestehende Infrastruktur auf katastrophale Weise überfordert, oder auch, wenn das Telekommunikationsnetzwerk in abgelegenen Gegenden schnelles Internet verhindert. In solchen Fällen war die Politik offensichtlich zu langsam.

Zeichen der Zeit

Hartmut Rosa, Soziologieprofessor in Jena, schreibt, er hält ständige Beschleunigung für das zentrale Merkmal der Moderne. Technik ist dabei ein wichtiger Faktor. Im Laufe der Industrialisierung hat sie ständig schnellere Produktion, ständig schnelleren Transport und ständig schnellere Kommunikation ermöglicht. Laut Rosa zwingt der Wettbewerb Privatunternehmen, ihr Bestes zu tun, um noch schneller zu werden, weil das zu Vorteilen führt. Wer nicht mithält, scheitert.

Beschleunigung ist also mit Wirtschaftswachstum eng verwandt. „Schneller, schneller und schneller“ bedeutet schließlich auch „mehr, mehr und mehr“. Allerdings hält der Druck zu höherem Tempo auch an, wenn das Wachstum einbricht. Gerade in Rezessionen müssen Firmen nämlich effizienter werden. 

Wie Rosa ausführt, führt Beschleunigung zu rasantem gesellschaftlichen Wandel. Alles ändert sich. Was heute normal erscheint, wirkt morgen antiquiert. Was heute als innovativ gilt, kann schon bald ein bisschen überholt sein. 

Fragile Identitäten

Rosa zufolge hat gesellschaftliche Beschleunigung gravierende psychologische Konsequenzen. Sie stellt individuelle Identität und das damit verbundene Selbstwertgefühl infrage. Niemand kann sich darauf verlassen, dass die aktuelle professionelle Kompetenz künftig noch gefragt sein wird. Je dynamischer der Wandel wird, umso mehr wächst der Anpassungsdruck. Lernen wird zur permanenten Pflicht, ist aber nie abgeschlossen. 

Niemand kann jedoch die riesige Menge grundsätzlich verfügbarer Information verarbeiten. Es ist völlig unmöglich, jede relevante Quelle auch nur anzuklicken, geschweige denn wirklich zu nutzen. Folglich sind wir alle immer nur unvollständig informiert. Wir wissen nicht, ob wir noch auf der Höhe der Zeit sind. Faktenprüfung ist wichtig, aber nicht vollständig möglich. Wir müssen entscheiden, welchen Quellen wir trauen. Manche Menschen verlassen sich auf eine einzige Quelle, die für alle Fragen einfache Antworten bietet. Das ist eine leichtfertige, aber seelisch beruhigende Wahl. 

Rosa führt aus, dass Entfremdung zunimmt, wenn der Alltag unbeständig wird. Wenn beispielsweise ein Computerprogramm aktualisiert wird, bekommen Nutzende nämlich nicht nur mehr und bessere Optionen. Sie müssen auch den Umgang mit dem Instrumentarium, das sie schon lange verwenden, wieder neu erlernen. 

Digitale Entfremdung

Wie Rosa schreibt, nutzen Berufstätige Computerprogramme zunehmend nur noch intuitiv. Die Mühe, ein Programm immer wieder neu vollständig beherrschen zu lernen, ist einfach zu groß. Auch fehlt dafür schlicht und einfach die Zeit, da ständige Beschleunigung bedeutet, dass die Arbeitslast wächst, aber schneller erledigt werden muss.  

Den eigenen Werkzeugkasten nicht genau zu kennen, irritiert natürlich besonders, wenn Aufgaben mit wachsender Komplexität in geringerer Zeit bewältigt werden sollen. Rosa spricht von „rasendem Stillstand“. Alle strampeln sich nach Kräften ab, aber niemand kommt voran. 

Individuelle Selbstverwirklichung war aus Rosas Sicht immer das Versprechen der Moderne. Statt ihr Schicksal entsprechend zu gestalten, müssen Menschen sich aber heute ständig an wandelnde Bedingungen anpassen. Sie sind nicht frei, ihr Schicksal nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, sondern müssen flexibel auf ständig neue Anforderungen reagieren. Starke Glaubenssätze oder persönliche Prinzipien sind dabei nicht hilfreich. 

Identitätspolitik

Wo individuelle Identität untergraben wird, wächst der Wunsch nach fragloser Zugehörigkeit. Rechtspopulistische Kräfte nutzen das aus.

Beschleunigung ist in diesem Sinne eine doppelte Herausforderung für die Demokratie. Einerseits sind ihre Verfahren zu langsam, andererseits behaupten autoritäre Rechtsextreme, die bestehende Ordnung gestehe „dem“ Volk seine „normale“ Lebensweise nicht zu. In Rosas theoretischen Überlegungen spielt der zweite Punkt keine zentrale Rolle, was er schreibt, passt aber gut zu dem, wie der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller Populismus definiert. 

Autoritäre Kräfte klagen meist nicht über Beschleunigung. Ihr Narrativ ist, bösartige globale Eliten wollten ihr Volk ausbeuten, unterdrücken und sogar austauschen. Dagegen müsse sich das Volk wehren. Rechtsextremist*innen tun so, als verteidigten sie eine homogene Nation gegen aggressive Zuwanderung und globale Eliten. Donald Trump – ehemaliger und künftiger Präsident der USA – ist das prominenteste, aber beileibe nicht das einzige Beispiel. Verschwörungstheorien kursieren, denen zufolge Migration die angestammte Bevölkerung verdrängen soll.

Solch irreführende Propaganda nutzt eine weitere Schwäche moderner Demokratien aus. Nationalstaaten können globale Probleme nicht lösen. Folglich erfordert kompetente Regulierung internationale Zusammenarbeit. Dieses Phänomen wird öfter thematisiert als Beschleunigung. 

Es lässt sich auch anders formulieren: Nationale Souveränität stößt schnell an ihre Grenzen, wenn es um globale öffentliche Güter geht – wie etwa Handel oder Umwelt (Klima, Biovielfalt, Wüstenbildung, Plastikmüll et cetera). Auch die Bekämpfung von Seuchen oder organisierter Kriminalität gelingt im nationalstaatlichen Rahmen nur bedingt. Das gilt gleichfalls für makroökonomisches Management, denn Steuersätze, Zinssätze und Schuldenniveaus sollen international wettbewerbsfähig sein. 

Globalisierung plus Beschleunigung

Die Entscheidungsvollmachten gewählter Regierungen sind oft recht klein, und technokratische Politik ist die Norm geworden. Sie nimmt auf soziale und ökologische Belange kaum Rücksicht. Solche Dysfunktionen nähren dann populistische Wut. Aus offensichtlichen Gründen erfordert international koordinierte Politikgestaltung jedoch besonders viel Zeit. Dass schneller sozialer Wandel aber alle Länder betrifft, verschärft die politischen Schwierigkeiten.

Autoritärer Rechtspopulismus beansprucht zwar, das Volk zu verteidigen, dient typischerweise aber oligarchischen Interessen. Er stützt sich auch oft auf Spenden von Superreichen. Diese wollen demokratische Beschränkungen ihrer Privilegien verhindern und wissen, dass nationalstaatliche Regulierung oft zahnlos bleibt. Weil in der vernetzten Weltgesellschaft der Erfolg von Staatshandeln oft von internationaler Kooperation abhängt, wird solche Zusammenarbeit – ob im Kontext der EU oder der UN – verteufelt.

Literatur
Rosa, H., 2013: Beschleunigung und Entfremdung. Berlin, Suhrkamp.

Hans Dembowski war von Januar 2004 bis Dezember 2024 Chefredakteur von E+Z/D+C. 
euz.editor@dandc.eu