Entwicklung und
Zusammenarbeit

Empowerment

Im Jenseits von Fast Fashion

Der Kantamanto-Markt für Gebrauchtkleidung in Ghanas Hauptstadt Accra zeigt, dass Menschen im informellen Sektor mit vielen Risiken konfrontiert sind, aber Wege finden, damit umzugehen. Besonders Frauen fehlt oft die Sicherheit eines formalen Arbeitsplatzes. Die unabhängige Or Foundation unterstützt sie dabei, ihre Lebensqualität zu verbessern. Sie fordert auch Veränderungen auf nationaler und internationaler Ebene, denn die Fast Fashion der Konsumgesellschaft bringt viele Probleme.
Janet Kyerewaa an ihrem Stand in Kantamanto im Sommer 2024. Susanne Giese Janet Kyerewaa an ihrem Stand in Kantamanto im Sommer 2024.

Der Kantamanto-Markt gilt weltweit als der größte seiner Art. Anfang Januar 2025 brannte er komplett ab. Dabei starb ein Mensch; viele wurden verletzt. Für tausende informelle Händler war die Katastrophe ein großer persönlicher Rückschlag. Informelle Märkte in Entwicklungsländern sind besonders feuergefährdet.  
 

Die gesamte Kantamanta-Community muss sich nun – wie schon nach früheren Bränden – ihre Lebensgrundlagen neu aufbauen. Normalerweise kommen hier jede Woche rund 15 Millionen gebrauchte Kleidungsstücke aus aller Welt an, berichtet die zivilgesellschaftliche Organisation Or Foundation. Sie werden in riesigen Ballen mit einem Gewicht von 55 Kilogramm und mehr angeliefert. Oft wurden sie in Europa oder Nordamerika als wohltätige Spenden gesammelt. 

Mehr als 30 000 Menschen sind in Kantamanto erwerbstätig. Sie verdienen Geld mit dem Sortieren, Waschen, Bügeln, Reparieren, Färben und der Wiederverwertung von Kleidungsstücken. Unzählige Arbeitsschritte machen die Ware wieder verkaufbar. 

Shattas Erfahrungen

Schocks im Alltag sind für Janet Kyerewaa nicht allzu ungewöhnlich. Sie ist eine Händlerin, die Kleiderballen kauft und deren Inhalt dann verkauft. Ihr Spitzname ist „Shatta“, weil ihre No-Nonsens-Attitüde an den afrikanischen Dancefloor-Star Shatta Wale erinnert. Einen Ballen zu kaufen ist, wie an einer Lotterie teilzunehmen. Sie kann den Inhalt der Ballen nicht vorab prüfen. Den Ballen aufzuschneiden und schlechte Qualität festzustellen, „haut dich weg“, sagt sie. 

Janet verkauft en gros und im Einzelhandel. Wenn sie einen Ballen aufschneidet, suchen sich zunächst Wiederverkäufer*innen die besten Teile aus, um sie in ihren Geschäften oder auch Tür zu Tür zu verkaufen. Sie werden „Selectors“ genannt. Ist die Ware gut und der erste Selektor nimmt viele Kleidungsstücke ab, erhält Janet sofort einen großen Teil dessen, was sie selbst für den Ballen bezahlt hat. 

Normalerweise kauft der erste Selektor 60 bis 100 Stück, aber manchmal sinkt die Anzahl unter 20. Dann muss Shatta selbst mehr Artikel im Einzelhandel verkaufen, was mehr Zeit erfordert. An einem guten Tag kaufen Kunden an ihrem Verkaufsstand 15 bis 20 Teile. Schlechte Qualität bedeutet niedrige Preise, und Janet senkt sie manchmal noch weiter, um den Verkauf zu beschleunigen. Sobald sie genug Geld eingenommen hat, kauft sie einen neuen Ballen: „Die Kunden wollen etwas Neues sehen, sonst verlieren sie das Interesse.“

Janet stammt aus Ghanas Eastern Region und kam vor mehr als 20 Jahren nach Accra. Sie arbeitete in verschiedenen Jobs, bis sie schließlich einen eigenen Stand in Kantamanto bezahlen konnte. Der Handel mit Gebrauchtkleidung half Janet, ihre beiden Kinder großzuziehen. Sie sieht Accra immer noch nur als einen Schritt auf ihrem Weg nach Kanada, von wo aus sie Second-Hand-Kleidung exportieren will. 

„Kantamanto wächst“, berichtet Janet, „aber das Geschäft läuft schlechter“. Ihrer Erfahrung nach nimmt die Qualität der Kleidungsstücke seit einiger Zeit ab. Was sie nicht verkaufen kann, gibt sie ihrer jüngeren Schwester, die außerhalb von Kantamanto und an Straßenhändler verkauft. Einige Teile kommen aber in den Müll, weil sie zu zerrissen und fleckig sind, um überhaupt noch verkäuflich zu sein.  

Individuelle Strategien

Wer im informellen Sektor arbeitet, ist oft nur einen Schritt von der Armut entfernt. In der Regel fehlt es an sozialem Schutz wie Kranken- oder Rentenversicherung. Es gibt weder Urlaub noch Arbeitslosengeld. In Kantamanto zu arbeiten, ist in der Regel nicht das, was Menschen sich für ihr Leben wünschen. Viele finden jedoch keine attraktivere Option. 

Virgin war früher Kreditsachbearbeiterin, bis das Finanzinstitut, bei dem sie angestellt war, vor vier Jahren im Zuge von Ghanas „Financial Sector Clean-Up“ schließen musste. Danach stieg sie bei ihrer Schwester Zabiatu in Kantamanto ein, betreibt inzwischen aber ihren eigenen Stand. Wie sie vertrauen viele Menschen in Kantamanto vor allem ihren Verwandten. Schriftliche Verträge sind sehr selten, und die Leute haben keinen Zugang zu Rechtsmitteln, um Ansprüche durchzusetzen. 

Obwohl Kantamanto oft nicht ihr Lebensplan war, machen die Kleinunternehmer*innen das Beste daraus und entwickeln verschiedene Geschäftsstrategien. Manche spezialisieren sich zum Beispiel auf Jeans oder Handtaschen. Virgin und Zabiatu konzentrieren sich auf Kinderbekleidung, die sich schneller verkauft. „Wenn die Qualität stimmt, lässt sich gutes Geld verdienen“, sagt Virgin. Die besten Stücke heben beide für Weihnachten auf, denn dann geben Kund*innen mehr aus. 

Auch den beiden Schwestern ist aufgefallen, dass die Qualität der Second-Hand-Kleidung abnimmt. Das liegt vor allem an dem, was in einkommensstarken Konsumgesellschaften „Fast Fashion“ heißt. Billige Kleidungsstücke werden produziert, um nur ein paar Mal getragen zu werden und bald mit Teilen aus der nächsten monatlichen Kollektion von H&M, Primark oder Zara ersetzt zu werden. 

Immer mehr Abfall 

Fachleuten zufolge landen 40 Prozent aller Artikel, die derzeit in Kantamanto ankommen, im Abfall. Der gewaltige Textilabfall überfordert Accras Müllabfuhr. Mancherorts türmt er sich haushoch. Mehrere Meter lange „Tentakel“ verschmutzen die Strände. Eine moderne Mülldeponie wurde mit Unterstützung der Weltbank gebaut und 2020 eröffnet, ist aber bereits überfüllt, obwohl sie 25 Jahre in Betrieb sein sollte. Die meisten Kleidungsstücke sind aus Mischtextilien mit Plastik. Dieser Müll zersetzt sich nicht vollständig und belastet die Umwelt deshalb dauerhaft. 

Aufgrund des ungünstigen Wechselkurses und anderer ökonomischer Entwicklungen sind die Einkaufspreise für Second-Hand-Kleidung trotz abnehmender Qualität gestiegen. Die Gewinnspannen im informellen Geschäft sind oft zu gering, um eine Familie ernähren zu können. Einige Handeltreibende nehmen Kredite auf, um zusätzliche Ballen zu kaufen. Das verschlimmert ihre Situation, da sie die Kredite mit hohen Zinsen zurückzahlen müssen. Manche wenden sich dem Upcycling zu oder erstellen sogar ganz neue Artikel aus Resten gebrauchter Textilien.  

Einige haben es sogar geschafft, eigene Modemarken zu gründen, und vermarkten ihre Waren bis in die benachbarte Côte d‘Ivoire. Bestellungen per WhatsApp und die Bezahlung per Mobile Money erleichtern den grenzüberschreitenden Handel. Für Upcycling wird jedoch mehr – und teurere – Ausrüstung benötigt als für den bloßen Handel. Ein Großteil dieser Investitionen ging bei dem jüngsten Brand verloren. Den Neustart zu finanzieren, ist entsprechend schwieriger.  

Laut Or Foundation lief das Geschäft in Kantamanto in den letzten Jahren aber auch ohne die Katastrophe ständig schlechter. Viel zu viele Artikel überschwemmen den informellen Markt, und viel zu viele sind von geringer Qualität. 

Liz Ricketts ist Mitbegründerin der Stiftung. Sie hält Fast Fashion für ein riesiges Problem: „Das meiste, was in Kantamanto landet, wird nur gespendet, weil Fast Fashion raschen Umschlag erfordert.“ Die Artikel würden nicht dafür gemacht, geliebt, gehegt und gepflegt zu werden, sondern sollten schnell weggeworfen werden. Während die Menschen in Ländern mit hohen Einkommen ihre Kleidungsstücke nicht mehr zu schätzen wüssten, werde Second-Hand-Kleidung in den Ländern, die sie abnehmen, immer mehr zum Müllproblem, sodass sie immer weniger Chancen biete. 

Drei Handlungsebenen 

Die Or Foundation konzentriert sich auf Kantamanto und setzt sich für die Entwicklung des Marktes ein. 

  • Auf individueller Ebene unterstützt sie Berufsbildung, um nachhaltige Lebensgrundlagen schaffen. Besonders wichtig ist dies für „Kayayei“ genannte Lastenträgerinnen, die schwere Lasten auf dem Kopf transportieren, was potenziell tödliche Wirbelsäulenschäden verursachen kann. Schulungen helfen auch beim Upcyceln und Weiterverwerten. Die Stiftung erprobt Möglichkeiten des Recyclings oder der Entwicklung neuer Materialien aus getragenen Textilien. 
  • Auf organisatorischer Ebene stärkt die Or Foundation Gruppen wie eine Koalition von Händlerinnen in Kantamanto. Diese fordert eine sicherere und gesündere Arbeitsumgebung. Sie hatte auch für die Verteilung von 490 Feuerlöschern gesorgt, die auf dem gesamten Markt installiert werden sollten. 
  • Auf nationaler und internationaler Ebene fordert die Stiftung besseres Abfallmanagement und bessere Arbeitsbedingungen. Sie tritt unter anderem für eine erweiterte Herstellerverantwortung der Bekleidungsindustrie (Extended Producer Responsability – EPR) ein. 

Im November 2022 reiste Janet Kyerewaa (alias „Shatta“) als Mitglied einer Delegation der Or Foundation zu einer Konferenz nach Frankreich. Frankreich ist führend in Bezug auf die EPR. 2007 wurde ein verpflichtendes System für Sammlung und Recycling von Textilabfällen eingeführt. Schweden und die Niederlande folgten vor wenigen Jahren. Diese Initiativen decken jedoch nur die Recyclingkosten innerhalb des jeweiligen Nationalstaats ab. Es muss noch viel mehr passieren. 

Link
https://theor.org/work 

Susanne Giese ist freiberufliche Veränderungsberaterin mit Sitz in Accra. Sie bedankt sich bei Melody Serafino, Abena Essoun, Patrick Abesiyine und Sammy Oteng von der Or Foundation für ihre Unterstützung sowie bei allen Händlern und Händlerinnen von Kantamanto, die ihr Interviews gegeben haben. 
susanne.giese@arcor.de