Ethnische Identität
Ethnizität ist elementarer Bestandteil afrikanischer Gesellschaften
Es gibt schätzungsweise mehr als 3000 ethnische Gruppen in Afrika. Kaum einer der 55 Staaten des Kontinents ist ethnisch homogen. Die allermeisten Afrikaner*innen fühlen sich einer dieser Gruppen zugehörig. Ethnizität, die Konstitution gemeinsamer Abstammung und Kultur, ist einer der wichtigsten Identitätsmarker in ganz Afrika.
Das birgt enorme kulturelle Vielfalt ebenso wie Konfliktpotenzial. Viele der schwerwiegendsten Auseinandersetzungen des Kontinents waren ethnisch motiviert.
Der Biafra-Krieg Ende der 1960er-Jahre brach aus, weil sich die Igbo gegenüber anderen nigerianischen Ethnien, insbesondere den Hausa und Fulani, benachteiligt fühlten und ihre Unabhängigkeit von Nigeria erklärten (siehe Adaze Okeaya-inneh in dieser Ausgabe). Mindestens eine Million Menschen starben.
In Simbabwe fielen die Ndebele in den 1980er-Jahren einem Völkermord durch die shonasprachige Regierungspartei ZANU-PF zum Opfer, die bis heute an der Macht ist. Rund 20 000 Menschen wurden getötet. Die Region der Ndebele, Matabeleland, wurde seither systematisch durch die Regierung vernachlässigt. Die langjährigen Bürgerkriege in Liberia und zwischen Südsudan und Sudan waren ebenfalls durch ethnische Konflikte geprägt.
Auch in Südafrika gab es Gewalt zwischen ethnischen Gruppen. Während des Übergangs von der Apartheidregierung zur Demokratie in den Jahren 1990 bis 1994 versanken Johannesburgs Townships in bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Der Konflikt spielte sich vor allem zwischen den Zulu und Xhosa ab.
Europa ist mitverantwortlich für ethnische Konflikte
Südafrika ist ein Beispiel dafür, wie der Einfall der Europäer in Afrika über Missionierung und Kolonialismus solche ethnischen Spannungen beförderte oder sogar überhaupt erst auslöste. Erst seit die christliche Mission Anfang des 19. Jahrhunderts nach Südafrika kam, identifizierten sich Menschen überhaupt primär als Zulu oder Xhosa. Vorher spielte eine viel wichtigere Rolle, zu welchem Klan und welcher „chiefdom“ genannten Einheit man gehörte.
Die Mission stand vor dem Problem, dass sie die Bibel übersetzen musste, um sie der Bevölkerung zugänglich zu machen. Es gab allerdings keine Schriftsprache, also musste diese definiert werden. Die Frage war, ob die verschiedenen Sprachformen der Zulu und Xhosa und ihrer Chiefdoms sich genug ähnelten, um eine einzige Sprache darzustellen, in die die Bibel übersetzt werden sollte. Man entschied sich schließlich für zwei Sprachen: isiZulu und isiXhosa. Das bedeutete in der Folge auch, dass Kinder des Mpondo-Chiefdoms in isiXhosa und Kinder des Hlubi-Chiefdoms in isiZulu unterrichtet wurden, auch wenn diese Zuordnung zuvor keinesfalls so klar war. Somit nahmen Kinder nach und nach ihre auf Sprache basierende Identität als Zulu oder Xhosa an.
Völkermord in Ruanda
Auch der womöglich gravierendste Genozid auf dem afrikanischen Kontinent wurde durch die Ignoranz und Unkenntnis lokaler Gegebenheiten aufseiten der Kolonialisten befeuert. In Ruanda töteten die Hutu 1994 in knapp 100 Tagen etwa 75 Prozent der Tutsi-Minderheit sowie Hutu, die sich nicht am Völkermord beteiligen wollten. Manche Schätzungen gehen von einer Million Toten aus.
Es ist in der Ethnologie äußerst umstritten, ob es sich bei Hutu und Tutsi um distinkte Ethnien handelt. Sie haben zwar durchaus unterschiedliche kulturelle Praktiken, teilen sich aber ein Glaubenssystem, Traditionen und eine Sprache, Kinyarwanda. In präkolonialer Zeit waren Tutsi Angehörige der herrschenden Schicht im Rwabugiri-Reich, Hutu die Klasse der Beherrschten. Das System beruhte auf Unterdrückung, aber Klassenmobilität war möglich: Ein Hutu konnte Tutsi werden und umgekehrt.
In den zehn Jahren ihrer Kolonialherrschaft Anfang des 20. Jahrhunderts deuteten die Deutschen die Gesellschaft in Ruanda mithilfe rassistischer Theorien: Sie glaubten, die Tutsi seien Niloten, ursprünglich mit „kaukasischen“ und somit europäischen Völkern verwand. Die Hutu zählten sie zu den „negriden“ Ethnien Zentralafrikas, und somit war für die deutsche Kolonialmacht logisch, dass die Tutsi höherstehend waren, und sie banden sie als lokale Autoritäten in ihr Kolonialsystem ein.
Auf Deutschland folgte Belgien und schrieb in den 1930er-Jahren die Gruppenzugehörigkeiten seiner kolonialen Subjekte in Pässen fest. Nur wer zum Stichtag zehn oder mehr Rinder hatte, war Tutsi. Von nun an galt auch, dass Zugehörigkeit patrilinear vererbt wurde. Damit war die Klassenmobilität aufgehoben – wer Hutu war, blieb Hutu. Diese Festschreibungen zementierten ethnische Grenzen, die es vorher so nicht gab, und bestimmten den Fortgang der Geschichte in Ruanda – und im ethnisch sehr ähnlichen Nachbarland Burundi, wo es ebenfalls jahrelange blutige Konflikte zwischen Hutu und Tutsi gab.
Auf den Kolonialismus und den Zweiten Weltkrieg folgte die Entwicklungshilfe, und Ausländer*innen im Land – vor allem Missionar*innen – sahen es jetzt als ihre Aufgabe, den unterprivilegierten Hutu zu helfen, statt die Tutsi-Elite zu fördern. Hutu erhielten nun verstärkt Schulbildung und forderten politische Teilhabe.
Nach dem Abzug Belgiens spitzten sich die Konflikte zwischen den beiden Gruppen in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts zu, bis sie schließlich im Genozid an den Tutsi ihren grausamen Höhepunkt fanden.
Koloniale Grenzziehungen
Allgemein bekannt ist, dass sich die europäischen Kolonialist*innen Afrika relativ willkürlich aufteilten. Sie zogen Grenzen und schufen Länder, in denen sich Ethnien wiederfanden, die zuvor bestenfalls indifferent einander gegenüber waren, schlimmstenfalls verfeindet. Mittlerweile gibt es Erkenntnisse, dass die Kolonialmächte nicht immer reine Willkür walten ließen und durch Ethnolog*innen und lokale Eliten in einigen Fällen bereits existierende ethnische Territorien beachteten, um Konflikte innerhalb der Kolonien von vornherein zu vermeiden.
In vielen neu geschaffenen Ländern traf dies jedoch nicht zu oder beruhte auf Fehlannahmen. Die Konsequenzen daraus führten noch im 21. Jahrhundert zu blutigen Konflikten. In Kenia beispielsweise fanden sich angehörige Ethnien zweier Völkergruppen in einem Staat wieder, die kaum gemeinsame sprachliche oder kulturelle Verbindungen haben. Die Bantu-Völker der Kikuyu, Kamba oder Kisii sollten sich gemeinsam mit nilotischen Ethnien wie den Luo, Maasai oder Kalenjin nun kollektiv als Kenianer*innen verstehen.
Nach den Wahlen in Kenia Ende 2007 stand das Land am Rande eines Bürgerkriegs zwischen drei der größten Ethnien des Landes, den Kikuyu auf der einen und den Luo und Kalenjin auf der anderen Seite. Mehr als tausend Menschen starben, rund 620 000 wurden vor allem intern vertrieben.
Ethnische Identitäten heute
Bis heute kochen bei jeder Wahl in Kenia ethnische Spannungen hoch, denn der Großteil des Landes wählt Kandidat*innen der eigenen Ethnie. Korruption und Vetternwirtschaft zugunsten der eigenen Ethnie bestimmen zum Teil, wie schnell Dokumente verfügbar sind oder ob man eine Stelle findet. Selbst in vermeintlichen Schmelztiegeln wie Nairobi gibt es Viertel, die fast nur von einer ethnischen Gruppe bewohnt werden. Auch die ethnischen Familien spielen für manche nach wie vor eine Rolle: Bantu-Völker können untereinander im Zweifel eher auf Unterstützung hoffen als in der Interaktion mit Niloten. Welcher Ethnie man angehört, ist – wie vielerorts in Afrika – bereits am Nachnamen ersichtlich.
Auch anderswo bestimmt die ethnische Identität den Alltag nach wie vor mit. In Lagos und anderen nigerianischen Städten kann es bei der Wohnungssuche einen Unterschied machen, ob man Yoruba oder Igbo ist, und auch in der nigerianischen Diaspora gibt es Tendenzen, in der eigenen Gruppe zu bleiben.
In Simbabwe betreibt die Regierung immer noch Identitätspolitik, um an der Macht zu bleiben, und Shona- und Ndebele-Sprecher*innen begegnen sich mit Misstrauen. In Südafrika werden Xhosa- und Zulu-Identitäten bis heute auch durch die Sprachpolitiken der Schulen zementiert. Im Südsudan dominieren die Dinka, die zahlenmäßig größte Ethnie, mittlerweile Regierung und Behörden, nicht selten zum Nachteil der kleineren Gruppen.
Panafrikanismus
Seit der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten gibt es allerdings auch gegenläufige Tendenzen. Prominente Figuren des Kontinents wie Ghanas erster Präsident Kwame Nkrumah und Julius Nyerere, erster Präsident Tansanias, propagierten den Panafrikanismus, die Einheit aller afrikanischen Menschen weltweit unabhängig von Ethnie und Nationalität.
Die Idee hat noch immer eine gewisse Kraft, und vor allem viele junge Menschen des Kontinents identifizieren sich zunehmend als Afrikaner*innen und darüber hinaus auch immer stärker mit ihrer Nationalität.
Die ethnische Vielfalt Afrikas ist gleichzeitig ein unter allen Umständen zu erhaltendes Gut. Das bedeutet jedoch auch, dass Regierungen und die Zivilgesellschaft gefragt sind, sie vor identitätspolitischen Vereinnahmungen und ihren Konsequenzen zu schützen.
Katharina Wilhelm Otieno ist Redakteurin bei E+Z/D+C.
euz.editor@dandc.eu