Separatismus

Das Biafra-Vermächtnis

Die ethnische Vielfalt Nigerias war oft eher Verhängnis als Chance für eine pluralistische Stärkung und Entwicklung des Landes. Das wurde nie deutlicher als während des verheerenden Biafra-Krieges.
Biafraner*innen nehmen am katalanischen Nationalfeiertag in Barcelona teil und unterstützen die Befürworter*innen der Unabhängigkeit Kataloniens, indem sie dasselbe für ihre eigene Region fordern. picture-alliance/ZUMAPRESS.com/Paco Freire Biafraner*innen nehmen am katalanischen Nationalfeiertag in Barcelona teil und unterstützen die Befürworter*innen der Unabhängigkeit Kataloniens, indem sie dasselbe für ihre eigene Region fordern.

In Nigeria gibt es 371 ethnische Gruppen. Die Yoruba, Hausa und Igbo sind die drei größten. Lange vor dem Kolonialismus lebten sie selbstverwaltet und als separate Einheiten, heirateten selten untereinander, handelten aber miteinander und führten manchmal Krieg. Nach der Unabhängigkeit vom britischen Kolonialregime im Jahr 1960 fanden sie sich in einem Staat wieder, den es vor der Ankunft der Kolonialmacht nicht gab.

Während viele Länder um ihre Autonomie kämpfen mussten, verlief der Übergang zur Unabhängigkeit in Nigeria weitgehend friedlich. Doch in den darauffolgenden Jahren traten die kulturellen und politischen Unterschiede der drei größten Gruppen deutlich zutage.

Zunächst gelang es ihnen jedoch, eine Koalitionsregierung zu bilden. Doch als Folge einer manipulierten Wahl, des Staatsstreichs vom 15. Januar 1966 und des Gegenputsches vom 28. Juli 1966 zerbrach diese. Jede Gruppe war dabei für Morde unter den jeweils anderen verantwortlich.

1966 war das Militär entlang ethnischer Linien gespalten, und es folgte ein systematisches Massaker im muslimisch dominierten Norden des Landes. Die Opfer waren christliche Igbos aus dem Osten und Südnigerianer*innen. Tausende flohen, um ihr Leben zu retten.

Gescheitertes Friedensabkommen

Die Morde an wehrlosen Zivilist*innen lösten einen Aufschrei aus, und die Regierung versprach, dass solche Tötungen sich nicht wiederholen würden. Die Igbo wurden ermutigt, in den Norden zurückzukehren. Doch kurz darauf folgte ein zweites, noch verheerenderes Massaker, bei dem mehr als 3000 Igbo getötet wurden. Als Vergeltung wurden aus dem Norden stammende Nigerianer*innen in den von Igbo dominierten östlichen Bundesstaaten ermordet.

Das in Ghana geschlossene „Aburi-Abkommen“ sollte den Frieden wiederherstellen. Kurz darauf wurde es jedoch von Oberstleutnant Yakubu Gowon, dem Vertreter der nigerianischen Militärregierung, wieder aufgehoben. Er verkündete die föderale Aufteilung Nigerias in zwölf Staaten, wodurch sich auch die Ostregion in drei Teile aufspaltete: South Eastern State, Rivers State und East Central State. Die Folge war, dass die Igbo – zum größten Teil im East Central State beheimatet – die Kontrolle über den Großteil der Ölvorkommen in den beiden anderen Gebieten verlieren würden. Sie fühlten sich von den muslimischen Hausa und Fulani aus dem Norden, die die Regierung dominierten, verraten.

Hungersnot als Waffe

Am 30. Mai 1967 erklärte der Igbo-Oberst Odumegwu Ojukwu Ostnigeria zu einem souveränen Staat, was die Regierung als unrechtmäßig ansah. Kurz darauf, am 6. Juli, marschierten Regierungstruppen in die Ostregion ein – der Biafra-Krieg hatte begonnen. Er ist auch als nigerianischer Bürgerkrieg bekannt und dauerte rund drei Jahre bis zum 15. Januar 1970.

Das Ausmaß des Biafra-Krieges fand auf der ganzen Welt Beachtung. Als erster afrikanischer Krieg, über den im Fernsehen berichtet wurde, erregte er große Aufmerksamkeit in den weltweiten Medien. Der Aufstieg bekannter internationaler Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen kann als eine Folge des Biafra-Krieges gesehen werden. Ihre humanitären Bemühungen wurden jedoch durch Lebensmittelblockaden der Regierung behindert.

Der Biafra-Krieg war von zahlreichen blutigen Massakern gekennzeichnet, verübt sowohl von der nigerianischen als auch biafranischen Armee. Am tödlichsten aber war die Nahrungsmittelblockade. Die biafranische Armee kapitulierte vor allem wegen der folgenden Hungersnot. Manche behaupten, der Biafra-Krieg sei der erste Völkermord von Schwarzen an Schwarzen gewesen, bei dem über 3 Millionen Zivilist*innen – darunter tausende Kinder – dem Hunger und den Massakern zum Opfer fielen.

Nachhaltige Auswirkungen

Der Biafra-Krieg hat in Nigeria tiefe Narben hinterlassen. Das Versprechen der Regierung auf Versöhnung, Wiederaufbau und Reintegration war und ist Wunschdenken; die Igbo wurden weiterhin politisch ausgegrenzt.

Auch heute, fast 60 Jahre nach dem Biafra-Krieg, sind Igbo weiterhin von Regierungsposten und dem Zugang zu Ressourcen ausgeschlossen. Zuletzt haben die nigerianischen Präsidentschaftswahlen 2023 deutlich gezeigt, dass die Igbo immer noch marginalisiert sind. In vielen Bundesstaaten – vor allem in Lagos, wo viele Igbo leben – wurden sie an der Stimmabgabe gehindert. Aggressionen gegen Igbo und Versuche, sie vom Wählen abzuhalten, wurden wie auch bei früheren Wahlen nicht verfolgt, sondern sogar teilweise ermutigt.

Eine Folge dessen ist die Zunahme des Igbo-Nationalismus, der Igbo-Kultur und -Land erhalten und fördern möchte. Im Laufe der Jahre sind neue sezessionistische Gruppen entstanden, darunter „Movement for the Actualization of the Sovereign State of Biafra“ und „Indigenous People of Biafra“. Diese Gruppen haben verschiedene nigerianische Regierungen gegen sich aufgebracht, indem sie Proteste für die Rechte der Igbo anführten. Diese Proteste haben zu unzähligen Zusammenstößen mit den Sicherheitsbehörden geführt – mit negativen wirtschaftlichen Folgen für die Igbo.

Die Frage nach der richtigen Richtung spaltet die Igbo. Die einen hoffen auf eine stärkere politische, soziale und wirtschaftliche Eingliederung in Nigeria, die anderen bevorzugen angesichts von Verachtung und Feindseligkeit nach wie vor die vollständige Abspaltung.

Bevor Großbritannien Nigeria kolonisierte, waren die Igbo autonom. Während der Kolonialzeit brachten Missionare dann nicht nur den christlichen Glauben, sondern auch eine rasche Entwicklung des Bildungssystems. Im Allgemeinen sind die Igbo für ihren Geschäftssinn bekannt. Schon lange vor dem Krieg gab es Unmut über ihre wirtschaftliche Dominanz, insbesondere im Norden. Bis heute gehören die Igbo zu den größten inländischen Investor*innen und zu den wohlhabendsten und am besten ausgebildeten Nigerianer*innen. Die Widerstandsfähigkeit der Igbo ist in dieser Hinsicht bemerkenswert.

Trotz der vielen ethnischen und religiösen Zusammenstöße lässt die nigerianische Regierung keine Spaltung zu – zu groß wären in manchen Regionen die Ressourcenverluste, insbesondere bei Ölreserven.

Die Igbo halten die Erinnerung an Biafra durch die Weitergabe von Wissen und Kultur wach. Der Krieg wirft selbst Jahrzehnte nach seinem Ende noch Schatten auf die Einheit Nigerias.

Adaze Okeaya-inneh ist Journalistin und Drehbuchautorin in Lagos.
adazeirefunmi@gmail.com