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Entwicklungspolitik

Entwicklungspolitik darf veränderte Realitäten nicht ignorieren

Die globale Entwicklungspolitik steht aufgrund zahlreicher Krisen, geopolitischer Machtverschiebungen und zunehmend antidemokratischer Tendenzen vor ungekannten Herausforderungen. Lösungen erfordern intelligente Prioritätensetzung, neues Vertrauen, Transparenz und erfolgreiche Kommunikation.
Ugandischer Demonstrierender vor dem Hauptsitz der Weltbank während eines Treffens mit dem IWF im vergangenen Jahr. picture-alliance/NurPhoto/Allison Bailey Ugandischer Demonstrierender vor dem Hauptsitz der Weltbank während eines Treffens mit dem IWF im vergangenen Jahr.

Die Gräben zwischen dem sogenannten Westen und Süden vertiefen sich. Zu den Gründen gehören Missstände wie die ungleiche Verteilung von Covid-19-Impfstoffen und die horrenden Schuldenlasten, mit denen einige Länder zu kämpfen haben. Staatsausgaben fließen zunehmend in den Schuldendienst und nicht in dringend benötigte Entwicklung. „Es zeichnet sich eine neue Realität ab“, kommentiert Len Ishmael, ehemalige Botschafterin der ostkaribischen Staaten in der EU und Belgien.

Mit dem Krieg in Gaza könnte der Punkt erreicht sein, an dem es kein Zurück mehr gibt, was das zerbrochene Vertrauen zwischen dem Westen und dem Süden angeht, sagt Ishmael, die jetzt an der Diplomatischen Akademie in Brüssel tätig ist. Angesichts der humanitären Katastrophe, die sich im Gazastreifen abspielt, erwarteten viele von den westlichen Regierungen ein entschlosseneres Eingreifen, anstatt lediglich Israels „Recht auf Selbstverteidigung“ zu billigen. Wenn andere Länder verdächtigt würden, Kriegsverbrechen zu begehen, übe der Westen normalerweise schnell Druck auf diese Regierungen aus und bestehe auf einer regelbasierten Weltordnung, so Ishmael. Viele Stimmen in Entwicklungs- und Schwellenländern würden eine regelbasierte Weltordnung begrüßen, meint sie – aber es müsste eine sein, „in der die Regeln nicht immer dann geändert werden, wenn sie dem Schiedsrichter nicht mehr gefallen“.

Ishmael ist sich der Unzulänglichkeiten der Begriffe „globaler Süden“ oder „Westen“ bewusst, findet sie aber dennoch nützlich. Für sie impliziert „der Süden“ geteilte Erfahrungen mit Kolonialismus, Unterentwicklung und Solidarität, während „ der Westen“ auf gemeinsame Werte und Interessen verweist.

Ishmael vertritt jedoch die Auffassung, dass wir eher von einem „neuen Süden“ sprechen sollten. Für sie steht dieser Begriff für eine neu entdeckte Handlungsfähigkeit, strategische Allianzen mit mehreren Partnern und eine Führung, die von ganz unterschiedlichen Orten ausgeht. Sie denkt dabei nicht nur an Brasilien und Indien, sondern sogar an kleine Inselstaaten wie Barbados. In ihren Augen bedeutet der neue Süden auch, dass es keine einfache Einteilung in Gut und Böse gibt.

Die Realität in den meisten Ländern des Südens ist, dass Massen von Menschen in Armut leben. Dementsprechend bevorzugen die Regierungen dort pragmatische Ansätze, die der Bevölkerung helfen. Diplomat*innen aus Afrika, berichtet Ishmael, neigten dazu, Dinge zu sagen wie: „Die Vizepräsidentin der USA kam und hielt uns einen Vortrag; China kommt, um Straßen zu bauen.“

Dass wir uns an einem Wendepunkt befinden, wurde deutlich auf einer Konferenz anlässlich des 60-jährigen Bestehens des German Institute of Development and Sustainability (IDOS) Anfang Juli in Bonn. Erst vor zwei Jahren hatte das Institut seinen Namen von Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in IDOS geändert. Es war eine Geburtstagsfeier in düsteren Zeiten: Mit dem Erstarken der extremen Rechten in ganz Europa steht die Existenz des gesamten Entwicklungssektors auf dem Spiel.

ODA und Autokratien

Eine besorgniserregende Tatsache ist, dass laut Studien rund 80 Prozent der öffentlichen Entwicklungshilfe (ODA – official development assistance) in autokratische Kontexte fließen. Wie Hawa Ba von Open Society Foundations berichtet, ist der Raum für die Zivilgesellschaft überall auf der Welt erheblich geschrumpft. 

Das bedeute jedoch nicht, dass die Zivilgesellschaft ausgeschaltet worden sei, meint sie. In vielen Ländern arbeiteten ihre Vertreter*innen daran, Einschränkungen zu umgehen. Als jüngste Beispiele nennt Ba Senegal und Kenia, wo vor allem junge Menschen den digitalen Raum nutzen, um für Demokratie zu kämpfen.

Die Förderung demokratischer Strukturen in Ländern mit autokratischen Tendenzen sei nicht einfach, sagt Ba. Eine Herausforderung sei, dass Jugendbewegungen in Afrika dazu neigten, westliche Geber abzulehnen, da sie nicht von den reichen Ländern abhängig bleiben wollten und nach Authentizität strebten. Dennoch sei Engagement möglich, meint Ba. Die Geber müssten allerdings sowohl die Handlungsmacht als auch die Bedürfnisse dieser Bewegungen respektieren. Dazu gehöre auch, Kanälen wie X, TikTok und WhatsApp Aufmerksamkeit zu schenken.

Survival Development Goals

Angesichts zahlreicher globaler Herausforderungen bleibt eine gemeinsame Vision über 2030 hinaus bestenfalls vage. André de Mello e Souza vom brasilianischen Thinktank IPEA (Institute for Applied Economic Research) merkt an, dass multilaterale Institutionen in Zeiten globaler Polarisierung schwächer werden. Er kritisiert, die Reformen des IWF und der Weltbank reichten nicht aus und seien zu spät gekommen. Ihm zufolge muss das Prinzip der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung (Common but Differentiated Responsibilities – CBDR) verbindlich werden. Es verpflichtet alle Staaten, die Klimakrise zu bekämpfen, verneint aber, dass alle gleichermaßen verantwortlich seien. Außerdem plädiert er für eine globale Steuer für Superreiche – nicht nur, um die Staatseinnahmen zu erhöhen, sondern auch, um ihren globalen Einfluss einzuschränken.

Die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs – Sustainable Development Goals) mit ihrer Liste von international anerkannten Entwicklungszielen stehen ebenfalls immer mehr auf dem Prüfstand. Viele Fachleute sind sich einig, dass sie zu viel abdecken und zu komplex sind. Einige sind der Meinung, dass der Schwerpunkt auf den Themen Gesundheit, Ungleichheit und Klimakrise liegen sollte, die eine globale Zusammenarbeit erforderten, und nicht auf Themen wie Bildung, mit denen die Nationalstaaten allein fertigwerden könnten. Jörg Faust vom Deutschen Evaluierungsinstitut der Entwicklungszusammenarbeit (DEval), drückt die Grundstimmung so aus: „Sie sind das Beste, was wir haben, aber nicht gut genug.“

Angesichts der zahlreichen weltweiten Krisen könnten die nächsten globalen Ziele „Survival Development Goals“ genannt werden, meint Archna Negi von der Jawaharlal Nehru University in Indien. Ihrer Ansicht nach ist der Schlüssel zu Nachhaltigkeit nicht Wachstum per se, sondern ein verantwortungsvoller Konsum. Sie argumentiert, dass Debatten rund um mehr Wachstum und Wachstumskritik keinen Sinn ergäben, solange nicht das gesamte kapitalistische System in Frage gestellt werden könne. Dies ist laut Negi aber unwahrscheinlich.

Katharina Wilhelm Otieno ist Redakteurin bei E+Z/D+C.
euz.editor@dandc.eu

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