Deutscher Kolonialismus
Im Schatten der Vergangenheit
In der BRD, der DDR und dem vereintem Deutschland überdeckte die Monstrosität des Holocaust lange die Tatsache, dass der deutsche Nationalstaat bereits vor der Nazizeit folgenschwere Verbrechen beging: als Kolonialmacht in Afrika, Asien und im Pazifik von 1884 bis zum ersten Weltkrieg. Verglichen mit der Aufarbeitung der NS-Zeit – und auch der DDR – kam diesem Kapitel der deutschen Geschichte im öffentlichen Diskurs und in den Lehrplänen von Bildungseinrichtungen allenfalls eine Nebenrolle zu.
Vielen Deutschen dürften deshalb die Ausmaße der kolonialen Vergangenheit ihres Landes kaum bewusst sein. Dabei ist diese mittlerweile gut erforscht, wie allein das umfangreiche Literaturverzeichnis in Henning Melbers Buch „The Long Shadow of German Colonialism“ beweist. Melber kritisiert, diese Erkenntnisse würden in Politik und Öffentlichkeit größtenteils marginalisiert oder ignoriert.
Der deutsch-namibische Politikwissenschaftler und Entwicklungssoziologe, seit Langem Autor bei E+Z/D+C, versteht sich als Wissenschaftler und Aktivist. Er bezieht in seinem Buch Stellung: für jene, die koloniales Unrecht erfuhren und deren Nachfahren noch heute unter den Auswirkungen leiden – und gegen „Amnesie, Verleugnung und Revisionismus“, so der Untertitel des Buches.
Relativierung des deutschen Kolonialismus
Ein beliebtes Narrativ zur deutschen Kolonialgeschichte lautet, sie sei doch eigentlich eher harmlos verlaufen, insbesondere verglichen mit der englischen, französischen, spanischen oder portugiesischen. Tatsächlich aber waren Ausmaß und Brutalität des deutschen Kolonialismus immens: Weit mehr als eine Million Einheimische verloren in kriegerischen Auseinandersetzungen ihr Leben, und eine noch größere Zahl an Existenzen wurde zerstört oder erheblich beeinträchtigt, wie Melber bilanziert. Die politischen, ökonomischen und kulturellen Einschnitte wirken sich heute noch auf Nachfahren aus.
Kolonialgeschichte Deutschlands und Namibias
Besonders brutal herrschten die Deutschen in Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Der Kolonialgeschichte dort widmet Melber ein längeres Kapitel. Von zentraler Bedeutung ist der Völkermord an den ethnischen Gruppen der Herero und Nama im Vernichtungskrieg von 1904 bis 1908. In Deutschland diskutierte man lange darüber, ob das, was dort geschah, überhaupt als Genozid zu bezeichnen sei. Erst 2015 sprach die Bundesregierung erstmals von Völkermord.
Melber analysiert die deutschen Zögerlichkeiten, die Reaktionen in Namibia und die Entwicklung des deutsch-namibischen Verhältnisses. Die „Gemeinsame Erklärung“ der beiden Länder aus dem Jahr 2021 zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen ist für ihn eine „tragisch verpasste Chance, behaftet mit Mängeln“. Er greift insbesondere die Kritik von Vertreter*innen von Nachfahren der Unterdrückten auf, sie würden nicht ausreichend gehört, weder in Deutschland noch im eigenen Land.
Die eigene Sichtweise reflektieren
Ihre angemessene Einbindung ist ein zentrales Anliegen Melbers, der als Sohn deutscher Einwanderer 1967 nach Namibia zog. Er thematisiert die eigene, westlich geprägte Perspektive auf die koloniale Vergangenheit. Diese könne bestehende Ungleichheiten potenziell fortschreiben. „Wir können und sollten uns nicht die Leiden und Traumata anderer zu eigen machen, die wir selbst nie erleben konnten oder werden. Aber wir können dazu beitragen, solches Leid und Trauma bekannt zu machen (...). Dieses Unterfangen erhebt nicht den Anspruch, für die Opfer zu sprechen, sondern will fragen, wie wir unsere Vergangenheit besser bewältigen können, als bescheidener Versuch, uns auf die Seite derer zu stellen, die viel zu lange haben einstecken müssen, ohne den Anspruch zu erheben, sich neben sie einzureihen.“
Entsprechend liegt Melbers Fokus auf den Deutschen und ihrem Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Den deutschen Kolonialismus verortet er im historisch-politischen Zusammenhang: Er zieht Verbindungen zwischen Kolonial- und Nazizeit, wirft einen Blick auf die Behandlung des Kolonialismus in der BRD und der DDR und beleuchtet gegenwärtige Diskussionen über Reparationszahlungen, die Restitution von Kulturgütern und die Umbenennung von Straßen, die Namen deutscher Kolonialverbrecher tragen. Dabei wird klar: Es hat sich einiges getan, nicht zuletzt dank der Arbeit postkolonialer Initiativen, wissenschaftlicher Forschung und dem wiederholten Aufgreifen in Kunst und Kultur. Das Thema Kolonialismus ist in Deutschland heute präsenter als früher, wobei es auch an revisionistischen Stimmen nicht fehlt, wie Melber am Beispiel der AfD zeigt.
Melber zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die sich trotz mancher Fortschritte ihrer Verantwortung im Hinblick auf die Kolonialzeit nur zögerlich stellt und diese in Teilen weiterhin verweigert. Um ein besseres Verständnis zu entwickeln, ist ihm zufolge eine „neue, selbstkritische, reflexive Orientierung und Positionierung im Schatten der Kolonialgeschichte“ nötig. Es gelte, das eigene Weltbild zu hinterfragen und den Erfahrungen der „anderen“ Platz einzuräumen.
Jenseits von Fakten und Analysen, schreibt Melber, benötige Vergangenheitsbewältigung ein „menschliches Gesicht“, etwa persönliche Zugänge und Schilderungen, Interaktionen auf zwischenmenschlicher Ebene sowie Mitgefühl, Wertschätzung und Respekt. Allerdings sei Versöhnung als kollektiver Prozess nicht möglich, solange die Nachfahren derer, die Unrecht erlitten haben, nicht angemessen berücksichtigt würden.
Blickt man unter diesem Gesichtspunkt auf das deutsch-namibische Verhältnis, ist der Weg heraus aus dem Schatten noch weit.
Buch
Melber, H., 2024: The Long Shadow of German Colonialism. Hurst & Company, London.
Jörg Döbereiner ist Chef vom Dienst bei E+Z/D+C.
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