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Indigene identität

Indigene verschaffen sich mit Kunst Gehör

Während der Kolonialisierung Australiens zogen europäische Einwanderer willkürlich Grenzen und übernahmen die Deutungshoheit von Kultur und Geschichte – ohne Rücksicht auf indigene Völker. In einer Aus­-stellung in Köln erzählen australische Ureinwohner*innen selbst von ihrer kulturellen Vielfalt, Geschichte und Identität. Sie suchen angesichts der Dominanz westlicher Kultur nach Wegen, ihre eigene Perspektive zu vermitteln.
Die Aborigines verstehen sich als Wächter des Landes und der Natur. Rautenstrauch-Joest-Museum Die Aborigines verstehen sich als Wächter des Landes und der Natur.

In Deutschland rückte in den vergangenen Jahren die Aufarbeitung der eigenen Geschichte als Kolonialmacht stärker in die Öffentlichkeit. Unter anderen wurden Fragen der Wiedergutmachung von Unrecht diskutiert, etwa im Kontext des Völkermords in der ehemaligen Kolonie Südwestafrika. Auch über die Rückgabe von Kulturgütern fand eine breite Debatte statt. Unter anderem gaben deutsche Museen Benin-Bronzen aus ihren Depots an Nigeria zurück, beispielsweise das Hamburger Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt (MARKK) und das Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum (RJM).

Dieser Diskurs muss vor allem um indigene Perspektiven bereichert werden. Ethnologische Ausstellungen spielen hier eine wichtige Rolle, wie eine  Schau im RJM zeigt, die noch bis zum 7. April 2024 zu sehen ist. Sie heißt „Revisions made by the Warlpiri of Central Australia and Patrick Waterhouse“ und präsentiert erstmals in Europa die Ergebnisse einer jahrelangen künstlerischen Kooperation.

Beteiligt waren zum einen Vertreter*innen der Warlpiri, die zu den Australian First Peoples zählen und in den Steppen Zentralaustraliens zu Hause sind. In selbstverwalteten Zentren betätigen sie sich künstlerisch. Zum anderen war der britische Fotograf und Künstler Patrick Waterhouse dabei, der fünf Jahre lang mit Warlpiri-Gemeinschaften lebte und arbeitete.

Ausgangspunkt für das Projekt sind die Gegensätze indigener und europäischer Kartografie in Australien. Die europäischen Einwanderer zerschnitten das Land mit willkürlichen Linien und legten Staatsgrenzen fest, wie einer der Künstler, Otto Jungarrayi Sims, betont. „Sie wussten nichts von der Vielfalt der Ethnien, die dieses Land bewohnen. Sie wussten nicht, dass wir unsere eigenen Geschichten, Songlines, Grenzen und Nationen haben“, sagt er. Songlines sind mythische, durch Gesang überlieferte Routen, die zusammen eine unsichtbare Landkarte Australiens aus der Perspektive der Aborigines ergeben und verschiedene Zeitebenen miteinander verbinden.

Noch bevor es zur künstlerischen Kooperation mit den Warlpiri kam, hatte Patrick Waterhouse mehrere Jahre Zentralaustralien bereist. „Ich kam mit Künstler*innen im Alter zwischen 16 und 90 Jahren der australischen First Peoples zusammen, und es entwickelte sich ein vielschichtiger Dialog mit einzelnen Künstlerfamilien, die ihr Volk mit einbezogen“, erzählt er. So ließen sich die Aborigines von Waterhouse fotografieren und bearbeiteten anschließend die Bilder unter Einsatz ihrer traditionellen Punktmalerei.

Diese Kunsttechnik der schichtweisen Bemalung und Übermalung lässt sich bis in die prähistorische Zeit zurückverfolgen. Die Aborigines gaben sie von Generation zu Generation bis in die heutige Zeit weiter. Der Titel der Ausstellung „Revisions“ („Überarbeitungen“) bezieht sich darauf: Mehr als 50 überwiegend weibliche Künstler*innen der Warlpiri übermalten und verzierten mit ihrer Technik unterschiedliche Dokumente jener, die erst nach ihnen nach Australien kamen, und verorteten diese Objekte damit neu.

Rückeroberung der Identität

Zu den Vorlagen zählen etwa Karten, Satellitenbilder, Postkarten, Tier- und Landschaftsfotos. Im Laufe der Zeit kamen etwa Comic-Illustrationen und Gemälde hinzu, vielfach Archivmaterial aus Museen und Auktionshäusern. Auch das RJM steuerte Abbildungen seiner Australiensammlung bei. Ein Gemälde von James Cook etwa ist nur mit einem roten Punkt auf der Nase verziert. Eine Ausstellungswand ist mit übermalten, geradezu ikonischen Foto-Portraits von Warlpiri-Bewohnern gestaltet, die die enge Verbindung der Menschen mit ihrem Land zum Ausdruck bringen.

„Die Europäer brachten ihre Dokumente in Form von Zeitungen, Karten und Texten mit“, erzählt Otto Jungarrayi Sims. „Das ist unsere Geschichte. Wir haben kein Papier. Wir haben unsere Dokumente und unser Wissen in uns selbst. In unseren Herzen und Köpfen.“

Überraschend und beeindruckend ist die vielfältige Formensprache, mit der die Künstler*innen verschiedene Geschichten erzählen. Dazu zählen auch drei riesige umgestaltete Fahnen. Sie sind in Vitrinen im Raum verteilt und scheinen zehn Zentimeter über dem Boden zu schweben. Mit Fahnen demonstrierten die Eroberer in Australien ihre Macht- und Besitzansprüche. Nun sind es die Aborigines, die Fahnen als Teil ihrer künstlerischen Auseinandersetzung mit kultureller Unterdrückung einsetzen.

Objekte zu „kapern“, um sie zu revidieren und neu zu gestalten, ist etwas ganz anderes, als etwa eine Staatsflagge zu zerschneiden, sie abzuhängen oder zu ersetzen – oder ein Gemälde mit Farbe zu bewerfen, wie es zuletzt Klimaaktivist*innen in Europa taten. Die Ausstellung zeigt kein simples Ausradieren, vielmehr sind die Werke Ausdruck einer kreativen Synthese. Die revidierten Bilder verbinden symbolhaft Altes und Neues, Mensch, Tier und Landschaft, Wirklichkeit und Vision. 

Diese Revision fügt sich ein in weltweite Bewegungen marginalisierter wie aktivistischer Gruppen, die Kunst nutzen, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Für indigene Gruppen geht es hier vor allem um die Rückeroberung und auch Neuausrichtung ihrer Identität, die durch Kolonialismus und Ausbeutung jahrzehntelang aktiv oder indirekt unterdrückt wurde. 

Jedes Bild der Ausstellung trägt die individuelle Handschrift der Künstler*innen und verkörpert die Identität der jeweiligen ethnischen Gruppe. In die Bilder sind Botschaften eingewebt, die sich den Betrachter*innen nicht auf den ersten Blick erschließen, etwa genderspezifische Aspekte. Die revidierten Bilder lassen sich als Puzzles begreifen, in denen jeweils verschiedene Teile der Geschichte der Warlpiri zusammengeführt werden.

Zum Verständnis der Songline-Werke und ihres Kontextes trägt auch ein Film in einem Nebenraum bei. Der Projektleiter der Ausstellung, Oliver Lueb, betont aber: „Wir können Songlines nur ansatzweise verstehen. Es ist allerdings wichtig, die falsche Übersetzung in ‚Traumzeiten‘ oder ‚Traumpfade‘ zu revidieren. Denn die weißen Entdecker und Eroberer haben nie verstanden, dass ihre eigentliche Bedeutung in der Verbindung von Vergangenheit und Zukunft im Heute liegt.“

Auch in der gezeigten Kunst greifen die Warlpiri Probleme der Vergangenheit auf und verweisen damit auf jene der Gegenwart, die für eine gelungene Zukunft zu lösen sind. Sie begreifen sich etwa als „Wächter des Landes“, was eine intakte Umwelt einschließt. Umweltzerstörung und rapider Artenverlust bedrohen nicht nur ihren Lebensraum. So markieren die Songlines überlebenswichtige Wasserstellen in einem zunehmend austrocknenden Land. In der Ausstellung zu sehen ist unter anderem ein Foto des 1936 ausgestorbenen Beutelwolfs, in der Sprache der Aborigines „Kaparunina“ genannt. Vor seiner Ausrottung war er das größte Raubtier Australiens. So mahnt das künstlerisch bearbeitete Foto, den zerstörerischen Umgang mit der Umwelt zu beenden.

„Durch die Kunst können wir unsere Geschichte erzählen“, sagt Warlpiri-Künstler Otto Jungarrayi Sims. „Wie wir auf diesem Land gereist sind. Wie wir in dem Land überlebten.“

Link
Die Ausstellung „Revisions made by the Warlpiri of Central Australia and Patrick Waterhouse“ ist bis zum 7. April 2024 im Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln zu sehen.
https://www.rautenstrauch-joest-museum.de

Marcel G. Seyppel ist freier Journalist und Berater.
drmseyppel22@gmail.com