Arbeitsmarkt

Jugendarbeitslosigkeit bleibt eine große Herausforderung für Indien

Für eine demografische Dividende braucht Indien mehr und bessere Jobs. Trotz hoher Wachstumsraten werden viele Menschen abgehängt – vor allem die jungen Menschen finden kaum gute Erwerbsmöglichkeiten.
In Indien sind Bauarbeiten in jeder Hinsicht unsicher – Arbeiter in Kalkutta. dem In Indien sind Bauarbeiten in jeder Hinsicht unsicher – Arbeiter in Kalkutta.

Pratap Singh ist seit vier Jahren arbeitslos. Er kommt aus Azamgarh in Uttar Pradesh, dem bevölkerungsreichen, aber gering entwickelten Bundesstaat. Er hat Kunststofftechnik studiert, bewirbt sich aber auf niedrige Stellen bei der staatlichen Eisenbahn. Er ist für viel anspruchsvollere Tätigkeiten qualifiziert, hofft aber auf einen sicheren und festen Arbeitsplatz.

„Als Kind sagte man mir, Bildung werde mir einen guten Job verschaffen – also habe ich fleißig gelernt“, sagt er. Aber jetzt sind seine Aussichten düster. Sich bei der Bahn zu bewerben ist das Beste, was er tun kann. Oft fragt er sich, ob sich das Studium gelohnt hat.

So wie Singh haben viele zu kämpfen. Viele Angehörige seiner Generation sind vom Land in Städte gezogen, um Ingenieurwesen, Naturwissenschaften, Jura oder Betriebswirtschaft zu studieren. Aber selbst nach dem Studium finden sie oft keine Anstellung in ihrem Fachgebiet. Viele kehren heim und nehmen jede Art von niedrig qualifizierter Arbeit an. Singhs Freund Rahul etwa hat Jura studiert. Jetzt arbeitet er als Büroangestellter in einer örtlichen Arztpraxis.

Singhs Frau möchte Lehrerin an einer Staatsschule werden. Stellenausschreibungen sind selten, die Zahl der Bewerbungen aber immer hoch. Um eine Stelle zu bekommen, sind Kontakte und Schmiergeld nötig. Gute Unterlagen reichen nicht. Das ist das Schicksal vieler junger Menschen in Indien, einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt.

Entwicklung des Arbeitsmarkts

Laut Weltbank dürfte das indische Bruttoinlandsprodukt in den kommenden drei Jahren mit einer jährlichen Rate von fast sieben Prozent zunehmen, ähnlich schnell wie in den vergangenen Jahren. Trotzdem fehlen Jobs für die Millionen junger Menschen, die jährlich auf den Arbeitsmarkt drängen.

Der Knackpunkt ist: Das Wachstum beruht weitgehend auf der Expansion des Dienstleistungssektors, der weniger arbeitsintensiv ist als das verarbeitende Gewerbe. Wer nicht zum öffentlichen Dienst gehört, arbeitet in Indien meist informell. Es gibt nur wenige formal geregelte Festanstellungen mit voller sozialer Sicherung (Krankenversicherung, Rentenversicherung usw.). Dass rund die Hälfte der indischen Bevölkerung immer noch von schwächelnden, kleinbäuerlichen Betrieben abhängt, trägt zu dem Problem bei.

Gemeinsam mit dem Institute for Human Development, einer unabhängigen Denkfabrik in Delhi, hat die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) vor einigen Monaten einen Bericht über den nationalen Arbeitsmarkt veröffentlicht. Ihm zufolge sind mehr als 80 Prozent der indischen Arbeitslosen jung und haben mehrheitlich formale Bildungsabschlüsse. Zwei Drittel der jungen Arbeitslosen hatten 2022 mindestens einen Sekundarschulabschluss. Zwanzig Jahre zuvor galt das nur für ein Drittel. Damals hieß es, mangelnde Bildung sei das Kernproblem.

Der ILO-Studie zufolge hat der indische Arbeitsmarkt in den letzten Jahren paradoxe Fortschritte gemacht. Das BIP steigt zwar rasch, charakteristisch bleibt aber das unzureichende Wachstum der formalisierten Wirtschaft. Sie gibt den vielen Landarbeiter*innen, die produktivere und lukrativere Arbeit brauchen, keine Perspektiven. Seit der Coronapandemie kehren Menschen sogar in die Landwirtschaft zurück – während in den Jahren davor im Servicesektor und dem Bauwesen die informelle Beschäftigung schneller gestiegen war als auf den Feldern.

Der Bericht weist auf weit verbreitete Existenzunsicherheit hin. Tatsächlich hängen 90 Prozent der indischen Beschäftigten als Tagelöhner oder Kleinselbständige von unmittelbaren Wünschen der Auftraggebenden ab. Sie haben keinerlei Sicherheit.

Theoretisch sollten die vielen jungen Arbeitskräfte Indien eine „demografische Dividende“ bringen. In der Ökonomie wird davon gesprochen, wenn Massen junger Menschen das Wachstum vorantreiben, ohne sich um viele Alte und Kinder kümmern zu müssen. Bei hoher Jugendarbeitslosigkeit fällt die demografische Dividende aber aus. Laut ILO-Bericht liegt das an unzureichender Bildung und mangelhafter Qualifikation. Den Daten nach können 75 Prozent keine E-Mails mit Anhang versenden und 90 Prozent keine mathematischen Formeln in Excel-Tabellen anwenden. Immer mehr junge Menschen schließen die Schule ab, lernen dort aber offenbar nicht die nötigen Dinge.

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist mit nur etwa 25 Prozent in Indien sehr niedrig. Zwar ist es im ländlichen Raum etwas besser geworden, aber für gebildete junge Frauen ist es noch schwieriger als für ihre männlichen Kollegen, eine hochqualifizierte Arbeit zu finden. Besonders schwierig ist es in den weniger entwickelten nördlichen Bundesstaaten wie Uttar Pradesh.

Politischer Zwist  

Die indische Zentralregierung hat das ILO-Dokument wegen angeblicher „Unstimmigkeiten in den Daten“ zurückgewiesen. Es erschien kurz vor den Parlamentswahlen, also war das erwartbar. Narendra Modis Regierung widerspricht unabhängiger Expertenarbeit regelmäßig oder spielt sie herunter.

Diverse Umfragen und Erhebungen zeigen allerdings seit Monaten, dass Arbeitslosigkeit eine Hauptsorge junger Menschen ist. Fachleute sagen, das habe sich auch im Wahlergebnis niedergeschlagen. Modis Partei schnitt schlechter ab als erwartet. Nun ist er auf die parlamentarische Unterstützung von Regionalparteien angewiesen und kann die Agenda nicht mehr allein bestimmen.

Als er 2014 erstmals gewählt wurde, hatte Modi junge Menschen mit dem Versprechen angelockt, innerhalb von zehn Jahren 250 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen. Daraus wurde nichts – und das wissen alle.

Auf dem Papier sieht Indiens Wirtschaftswachstum gut aus, aber davon haben junge Leute und benachteiligte Schichten nichts. Unterbeschäftigung ist eines der größten Probleme. Die Regierung sollte folgende fünf ILO-Empfehlungen beherzigen:

  • die Beschäftigungsintensität von Produktion und Wachstum steigern,
  • Jobqualität verbessern,
  • Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt bekämpfen,
  • effektivere Qualifizierungs- und weitere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen bieten und
  • Kompetenz- und Qualifikationslücken schließen, wegen derer so viele junge Menschen arbeitslos sind.

Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) machen all das dem Bericht zufolge noch dringlicher. KI werde die Arbeitsmärkte weltweit verändern, und Indien sei auf den Wegfall von Angestelltenjobs schlechter vorbereitet als andere G20-Länder.

Link
ILO and Institute for Human Development, 2024: India Employment Report 2024 – Youth employment, education and skills. Geneva, International Labour Organization.
https://www.ilo.org/sites/default/files/wcmsp5/groups/public/@asia/@ro-bangkok/@sro-new_delhi/documents/publication/wcms_921154.pdf

Roli Mahajan arbeitet als Journalistin in Lucknow, Indien.
roli.mahajan@gmail.com