Europäische Union
Am Nullpunkt
Seit Sommer 2015 gilt die „größte Flüchtlingskrise nach dem Zweiten Weltkrieg“ (UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR) als die größte Herausforderung für Deutschland und Europa. Die Unwilligkeit der 28 Staaten, Schutzsuchende würdig und solidarisch aufzunehmen, hat den Staatenverbund in eine Existenzkrise gestürzt. Europa verrät seine Werte wie Freiheit, Gleichheit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der von Minderheiten.
Die jetzige desolate EU-Flüchtlingspolitik zeigt wie im Brennglas, wie sie immer war: Zurückprügeln von Flüchtlingen an der bulgarischen und griechischen Grenze zur Türkei, erniedrigende Behandlung von Schutzsuchenden in EU-finanzierten Haftanstalten und Elendslagern sind in der EU seit Jahren an der Tagesordnung. Diese Missstände wurden von den EU-Staaten zum Teil wohlwollend in Kauf genommen, vor allem aber von den EU-Institutionen nicht konsequent geahndet.
Sichtbar werden jetzt auf schmerzhafte Weise alle Versäumnisse bei der sogenannten Vergemeinschaftung des Asylrechts. Fakt ist: Es gibt kein gemeinsames europäisches Asylsystem, obwohl die EU-Staaten seit 1999 daran bauen. Das real existierende Schutzsystem in der EU jedoch ist löchriges Flickwerk; ein menschenrechtskonformes gemeinsames Asylrecht liegt in weiter Ferne.
Ausdruck der jahrelangen tiefgreifenden Krise der europäischen Asylpolitik ist das sogenannte Dublin-System, das maßgeblich den EU-Staaten an den Außengrenzen die Verantwortung für die Asylverfahren zuweist. Es gilt weiterhin das alte Muster: Europa einigt sich schnell bei der Fortentwicklung der Abwehrpolitik, ist aber heillos zerstritten, wenn es um die Flüchtlingsaufnahme geht.
Am Beispiel Syrien hätte etwas Weitsicht genügt, um zu erkennen, dass es in den Nachbarstaaten keine Schutzkapazitäten mehr gibt. Im fünften Jahr des Mordens geben Schutzsuchende die Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr auf. Vier Millionen leben unter schwierigen bis elenden Bedingungen im Libanon, in der Türkei und in Jordanien. Die humanitäre Hilfe in den Hauptaufnahmestaaten ist chronisch unterfinanziert. Immer wieder sind die UN-Organisationen gezwungen, die Essensrationen für die Flüchtlinge zu reduzieren. Trotz Bürgerkrieg in Syrien seit März 2011, Massenflucht vor dem IS-Terror im Irak, Libyens Abgleiten in den Bürgerkrieg, der katastrophalen Situation in Afghanistan und Somalia oder der repressiven Diktatur in Eritrea dachte Europa, es könnte bei der Flüchtlingsaufnahme Zaungast bleiben. Diese Haltung ist spätestens seit 2015 obsolet.
Recht auf Leben unter Vorbehalt
„Wie viele Tote noch? Europäische Seenotrettung jetzt!“, appellierte PRO ASYL bereits im Sommer 2014 an das Europaparlament. Die Menschenrechtsorganisation fordert explizit die Schaffung eines europäischen Seenotrettungsdienstes und legale, gefahrenfreie Wege für Flüchtlinge, um das Sterben an Europas Grenzen zu beenden. Diese Forderung zeigt, dass sich Flüchtlingsarbeit dramatisch verändert hat: Es geht um Leben oder Tod! Im Jahr 2014 wurden etwa 150 000 Flüchtlinge durch die italienische Marineoperation Mare Nostrum gerettet und dennoch starben über 3500 Bootsflüchtlinge. Anstatt diese Operation auszubauen, ist Mare Nostrum Ende Oktober 2014 durch eine europäische „Lightversion“ namens Triton ersetzt worden.
Die von der EU-Grenzschutzagentur Frontex geführte Operation hatte einen sehr reduzierten Etat. Zugleich wurde das Operationsgebiet drastisch verkleinert. Die Folgen waren absehbar: Weniger Rettung heißt, dass noch mehr Menschen sterben – Triton wurde zur Sterbebegleitung. Erst als im April 2015 über 1000 Menschen innerhalb weniger Tage im zentralen Mittelmeer starben, war der internationale Aufschrei so groß, dass die Staats- und Regierungschefs der EU reagieren mussten. Sie hoben Triton finanziell und räumlich wieder auf das Level von Mare Nostrum. Auch wenn seitdem wieder mehr Menschen gerettet werden, geht das Sterben weiter. Bis heute müssen deshalb viele Rettungseinsätze über zivilgesellschaftliches Engagement sichergestellt werden. Initiativen wie Sea-Watch, Ärzte ohne Grenzen oder Migrant Offshore Aid Station (MOAS), die jeweils mit Rettungsbooten im Einsatz sind, leisten – genauso wie das Alarmphone für Bootsflüchtlinge in Seenot – dort unschätzbare Hilfe, wo die europäischen Staaten ihrer humanitären Verpflichtung nicht nachkommen.
Doch selbst für die Überlebenden der Überfahrt geht das Martyrium nach der Ankunft an den Küsten Europas weiter. „Es stehen ihnen“, so das UNHCR am 4. September 2015, „Chaos, Demütigungen, Ausbeutung und Gefahren an den Grenzen bevor.“ Ab Juli 2015 konnte die Öffentlichkeit dieses Flüchtlingsleid mitverfolgen – in täglichen Liveschaltungen von den griechischen Urlaubsinseln Lesbos und Kos, aus dem griechisch-mazedonischen Grenzgebiet und die gesamte Balkanroute entlang. Die humanitäre Katastrophe wurde lückenlos dokumentiert: Erschöpfte Menschen, darunter viele Kinder, laufen immer weiter in Richtung Zentrum der EU – obdachlos, ohne medizinische Versorgung, ohne gesicherte Essenversorgung und unter himmelschreienden hygienischen Verhältnissen. Tägliche Appelle von Initiativen, Menschenrechtsorganisationen und der UN, den Entrechteten zur Hilfe zu kommen, blieben ungehört.
Griechenland hatte mehr oder weniger nur einen Laufkorridor durchs Land eröffnet, aber diesen nicht humanitär ausgestattet. Schnelle und konzertierte Katastrophenhilfe von Seiten der EU oder Ad-hoc-Initiativen der Mitgliedstaaten, um den Schutzsuchenden diesen Marsch zu ersparen und sie legal weiterreisen zu lassen, blieben aus. Überwiegend private Initiativen mussten und müssen das nackte Überleben der Flüchtlinge entlang der Elendsstrecke sichern.
Blaupausen aus Brüssel
Am 9. September 2015 legte die EU-Kommission vollmundig ein „umfassendes Vorschlagspaket zur Bewältigung der Flüchtlingskrise vor, mit denen die EU-Mitgliedstaaten und die Nachbarländer konfrontiert sind“. Weitere 120 000 Personen, die „eindeutig internationalen Schutz benötigen“, sollen vor allem aus Griechenland und Italien auf die Mitgliedstaaten innerhalb von zwei Jahren umverteilt werden. Vorher wurden bereits 40 000 Notumverteilungen aus den beiden EU-Staaten beschlossen. Außerdem sind vorgesehen: eine effizientere Organisation der Rückkehrpolitik und die Stärkung des Mandats von Frontex im Bereich der Abschiebungen. Die britische Zeitung Guardian hat den Kommissionsansatz so zusammengefasst: „Juncker redet davon, Flüchtlinge willkommen zu heißen, und macht Europa gleichzeitig zu einer Festung.“
Am 22. September 2015 haben die EU-Innenminister dem Vorschlag zugestimmt, insgesamt 160 000 Schutzsuchende vorwiegend aus Griechenland und Italien umzuverteilen – gegen den Willen einiger EU-Staaten. In Folge versuchte die EU, den Dissens zu kitten – durch gemeinsame Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr: Der Druck auf Griechenland, die Seegrenze zu schließen, wird immer stärker. Außerdem wird die Türkei hofiert, um Schutzsuchende an der Weiterreise zu hindern.
Schutzsuchende, die in Griechenland oder Italien landen, sollen dort zunächst in sogenannten Hotspots festgehalten und registriert werden. Hotspots und der Notumverteilungsmechanismus sollen das längst gescheiterte Dubliner Asylzuständigkeitssystem ergänzen und künstlich am Leben halten.
In einer Situation, in der nur noch wenige EU-Staaten Flüchtlinge in nennenswerter Zahl aufnehmen, erscheinen diese Konzepte fast alternativlos. Tatsächlich aber sind sie realitätsfern und menschenrechtlich höchst problematisch. Hotspots in Griechenland und Italien – und bei Änderung der Fluchtrouten auch anderswo – werden die Misere an Europas Rändern nicht beenden. Stattdessen: viele offene Fragen und die Befürchtung, dass dort perspektivisch neue Haftzentren entstehen, in denen Flüchtlinge auf unabsehbare Zeit festgesetzt werden.
In den Hotspots sollen Flüchtlinge mit guten Schutzperspektiven – aktuell wären das Menschen aus Syrien, Irak und Eritrea – weiterverteilt werden. Voraussetzung ist, dass sie im Hotspot einen Asylantrag stellen. Zum Umgang mit weiteren Flüchtlingsgruppen, die oft ebenso großen Schutzbedarf und Schutzanspruch haben – zum Beispiel Flüchtlinge aus Afghanistan – sagt das Hotspot-Konzept dagegen nichts. Und was ist mit denjenigen, die beim „Schnellprüfen“ als nicht schutzwürdig aussortiert werden? Die sollen mit Hilfe von Frontex – europäisch finanziert – noch aus den „Wartezonen“ heraus schnell abgeschoben werden. Bis Mitte Januar 2016 konnten jedoch lediglich 322 Flüchtlinge tatsächlich in andere europäische Länder ausreisen.
Um den Deal zur Flüchtlingsabwehr mit dem autoritären türkischen Präsidenten Erdogan um jeden Preis zu realisieren, schweigt Europa über die eklatanten Verletzungen von Menschenrechten und Flüchtlingsrechten in der Türkei. Das Land verletzt systematisch Grundrechte wie die etwa die Pressefreiheit. Zudem hat die Regierung bewusst den bewaffneten Konflikt in Kurdistan wieder aufflammen lassen, so dass über kurz oder lang mit einer Flüchtlingswelle aus dieser Region zu rechnen ist.
Der Ruf nach einer anderen Flüchtlingspolitik wird lauter. Doch zeitgleich erstarken überall populistische und rassistische Bewegungen in Europa. Wenn es überhaupt einen Ausweg aus der aktuellen europäischen Existenzkrise geben soll, dann muss sich jetzt schnell eine „Koalition der Willigen“ bilden, die den Flüchtlingsschutz in Europa neu organisiert. Der Schlüssel liegt in Berlin. Die Kanzlerin hat mit ihrer starken und eindeutigen Botschaft – „Wenn wir uns entschuldigen müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“ – Deutschland in die Verantwortung genommen. Diese moralische Verantwortung muss auch für Europa gelten.
Karl Kopp ist Europareferent der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl und Vorstandsmitglied im Europäischen Flüchtlingsrat (ECRE).
koppeu@gmail.com
Links:
EU zur Bewältigung der Flüchtlingskrise:
http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-5596_de.htm
Pro Asyl zur EU-Flüchtlingspolitik:
http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/grenzen_dicht_puffer_drumherum_die_ergebnisse_der_eu_verhandlungen_im_ueberblick/