Flüchtlingspolitik
Shutdown der Menschenrechte
Europa hat bereits vor der Pandemie Schutzsuchende möglichst abgewehrt und häufig im Mittelmeer sterben lassen. Das Elend in den EU-Hotspots auf den griechischen Inseln existiert seit Jahren. Während sich alle öffentliche Aufmerksamkeit in Europa um die Coronavirus-Pandemie dreht, sterben weiter Bootsflüchtlinge im Mittelmeer oder werden wieder in die Folterlager nach Libyen zurückgeschickt.
Die Bedrohung durch Covid-19 nutzten Malta und Italien Ende März/Anfang April als Vorwand, ihre Häfen für private Seenotrettungsorganisationen zu schließen. Staatliche Seenotrettung findet kaum noch statt, die humanitäre Lebensrettung wird blockiert, und der dringend nötige europäische Seenotrettungsdienst ist nicht in Sicht. Maltas Regierung deponiert mittlerweile gerettete Bootsflüchtlinge auf Kreuzfahrtschiffen außerhalb ihrer Hoheitsgewässer – ohne Rechte und unter erbärmlichen Bedingungen. Sie sollen dort so lange vegetieren, bis andere EU- Staaten bereit sind, sie aufzunehmen.
Dokumentierte völkerrechtswidrige Zurückweisungen – Pushbacks – an den Landgrenzen und im zentralen Mittelmeer, in der Ägäis, zwischen Zypern und Syrien belegen enthemmte Gewalt gegenüber Flüchtlingen. Die Außengrenzen Europas sind heute eine menschenrechtsfreie Zone.
Familiennachzug anerkannter Flüchtlinge findet nicht mehr statt. Leidtragende sind Binnenvertriebene in Syrien, Schutzsuchende im Libanon, tausende eritreische Flüchtlinge im Exil in Äthiopien oder somalische Flüchtlinge in Kenia. Die Regierungen von EU-Staaten haben es geschafft, hundertausende Urlauber aus der ganzen Welt in Charterflügen zurückzuholen. Für Familienangehörige von Flüchtlingen, für tausende Schutzsuchende im Bürgerkriegsland Libyen oder 40 000 Asylsuchende in griechischen Lagern gibt es keine derartigen Luftbrücken.
Unter dem Titel „EVACUATE. MORIA. NOW” unterzeichneten renommierte internationale Mediziner einen Appell an die EU-Kommission, die griechischen Hotspots zu evakuieren und die Schutzsuchenden in andere EU-Länder auszufliegen. Ihrem Urteil nach sind Schutzmaßnahmen gegen das Coranavirus in den Flüchtlingslagern nicht möglich. Deshalb beschrieben die Experten detailliert das mögliche und gebotene Prozedere für angemessenen Infektionsschutz.
Das Lager Moria auf Lesbos ist das Symbol für die desaströse europäische Flüchtlingspolitik. Eine zivilgesellschaftliche Bewegung in Deutschland und Europa prägt seit März mit den Forderungen „Evakuiert die Lager“, „Niemand zurückgelassen“ (#NoOneLeftBehind) die flüchtlingspolitische Debatte.
Vor dem Lockdown spielten sich Anfang März dramatische Szenen an der griechisch-türkischen Landgrenze ab. Geflüchtete wurden mit Tränengas und Blendgranaten abgewehrt, Tausende gewaltsam zurückgewiesen (siehe Kommentar von Sabine Balk im e-Paper 2020/04, Debatte). Die EU-Kommissionspräsidentin, der Präsident des Europaparlaments und der Präsident des Europäischen Rats bekundeten in einem martialischen Auftritt am 3. März ihre uneingeschränkte Solidarität mit den Abwehrmaßnahmen der griechischen Regierung. Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat es nicht gestört, dass vor ihren Augen mit brutaler Gewalt gegen Schutzsuchende vorgegangen wurde. Sie kritisierte auch mit keinem Wort, dass die griechische Regierung das Asylrecht außer Kraft gesetzt hat, sondern erklärte Griechenland zum „Schutzschild Europas“.
Mit solchen Äußerungen haben sich die führenden EU-Repräsentanten von grundlegenden europäischen Werten distanziert. Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union lautet aber: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte …“ Dieses Fundament gilt es jetzt zu verteidigen.
Karl Kopp ist Leiter der Europa-Abteilung bei Pro Asyl, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rechte Geflüchteter einsetzt.
europa@proasyl.de