Menschenrechte
Humanität oder Barbarei
Der Grund für die Migrationswelle ist der seit 2011 anhaltende Syrienkrieg, in dem sich die Lage erneut zugespitzt hat. Das herrschende Regime von Präsident Baschar al-Assad überzog in den vergangenen Wochen und Monaten die letzte Rebellenhochburg Idlib unweit der syrisch-türkischen Grenze mit einem Bombenhagel. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan unterstützt dagegen die Rebellen und fühlt sich von der NATO und der EU im Stich gelassen.
Wahr ist aber auch, dass er seine eigene Syrienpolitik nicht mit den Partnern abgestimmt hat. Er hat sich zeitweilig mit Russland verbündet, steht nun aber plötzlich wieder als Widersacher russischer Machtinteressen da. Um den Druck auf die EU zu erhöhen, hat er Flüchtlingen weißgemacht, sie könnten in die EU ausreisen. Richtig daran war allerdings nur, dass die Türkei dies nicht verhindern würde.
Der Kontext ist kompliziert. Die Türkei hat bislang laut dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR etwa 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen – so viele wie kein anderes Land der Welt und auch deutlich mehr als alle EU-Mitglieder zusammen. Die EU hat mit Erdogan vereinbart, dass sie die Türkei finanziell unterstützt, wenn er keine Flüchtlinge ausreisen lässt. Darüber, ob das Geld reicht und wie viel mehr die Türkei bekommen sollte sowie über weitere Punkte, wird gestritten.
Die EU-Spitzenpolitiker fürchten, mehr Zuwanderung werde anti-demokratische und rassistische Kräfte weiter erstarken lassen. Deshalb fährt Griechenland unter Lob der EU einen knallharten Kurs gegen die Migranten an seiner Grenze, die zugleich die EU-Außengrenze ist. Die Szenen, die sich dort laut Augenzeugen abspielen, sind grausam. Die griechische Regierung lässt Tränengas gegen Männer, Frauen und Kinder einsetzen und sogar auf sie schießen. Migranten in Schlauchbooten kommen auch nicht an Land. Wegen des grassierenden Coronavirus sind die EU-Grenzen seit 17. März ohnehin komplett dicht.
Etwa 10 000 bis 20 000 Menschen saßen zu Redaktionsschluss Ende März im Niemandsland zwischen Griechenland und der Türkei fest – unversorgt und ohne Unterkünfte. Wie sich der Ausbruch des Coronavirus dort auswirken würde, mag man sich gar ausmalen. Ähnlich desolat sieht es in den total überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln aus. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen fordert die umgehende Evakuierung der Lager wegen des Coronavirus. Es drohten sonst unkon-trollierbare Zustände.
Die EU muss den Grundsätzen, die sie erhebt und an denen sie andere misst, selbst gerecht werden, wenn sie glaubwürdig bleiben will. Die Aussetzung des im Prinzip von ihr garantierten Rechts auf Schutz und Asyl ist deshalb skandalös. Menschen, die in ihrer Heimat bedroht werden und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind, wies Griechenland mit Applaus der EU-Partner an der Grenze ab. Die EU fordert in ihrer Entwicklungspolitik gute Regierungsführung und die Einhaltung der Menschenrechte. Angesichts der Katastrophe an den Außengrenzen fragen sich nicht nur Afrikaner und Asiaten, sondern auch viele Europäer, welchen Wert Menschenrechte und Humanität für die EU wirklich haben.
Die EU-Politiker lassen Rechtspopulisten im politischen Diskurs obsiegen. Das ist unverantwortlich und führt zu keiner konstruktiven Lösung. Die Forschung zeigt: Migration lässt sich nicht stoppen. Wenn Menschen ihre Heimat hinter sich lassen, weil sie Schutz vor Bomben oder Naturkatastrophen suchen oder keine Zukunft mehr sehen, wird sie nichts dauerhaft aufhalten. Auch Zäune und rohe Gewalt halten nur eine begrenzte Zeit.
Mit dem Einsatz von Gewalt an der Grenze gibt die EU ihre humanistischen Werte auf. Ihre Spitzenpolitiker sagen nicht völlig zu Unrecht, es gehe darum, sich nicht vor Erdogan erpressen zu lassen. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass sie ihm in der Türkei politisch helfen, indem sie Flüchtlinge abweisen. Je weniger glaubwürdig die EU ist, umso weniger können Erdogans heimische Kritiker, die sich auf demokratische Werte beziehen, ihre Landsleute überzeugen.
Sabine Balk ist Redakteurin von E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit /D+C Development and Cooperation.
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