Multilaterale Politik
Guter Rhetorik müssen Taten folgen
Als nach dem Zweiten Weltkrieg die internationale Entwicklungspolitik begann, ging es vor allem um Wirtschaftswachstum pro Kopf. Die Leitidee war, ganze Gesellschaften würden prosperieren, wenn sie denn mit genügend Eigenmitteln oder Entwicklungshilfe die Wirtschaftsleistung steigerten.
Bald wurde dann klar, dass Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung sehr wichtig sind. In frisch unabhängig gewordenen Staaten fehlte es Massen an grundlegenden Dingen, woran Wachstum wenig änderte. Mangel herrschte unter anderem an Nahrungsmitteln, sicherem Trinkwasser, Grundbildung und elementarer Gesundheitsversorgung. Entsprechend entwickelte die Entwicklungspolitik den Grundbedürfnisansatz.
Dieses Paradigma entwickelte sich über die Jahrzehnte weiter. 1999 veröffentlichte der Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen das Buch „Development as Freedom“. Ihm zufolge soll Entwicklung alle Menschen befähigen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Für Sen ist soziale Gerechtigkeit zentral, denn selbst wohlhabende Gesellschaften schließen arme Menschen von wichtigen Chancen in Bezug auf Bildung, Erwerbstätigkeit und Gesundheit aus. Der technische Fortschritt schafft zwar enorme individuelle Möglichkeiten, aber Angehörige marginalisierter Gruppen können der Armut oft nicht entfliehen.
Sen hat die Entwicklungstheorie stark beeinflusst. Frühere Arbeiten von ihm waren die Grundlage des Index für menschliche Entwicklung (HDI – Human Development Index), den das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP – UN Development Programme) seit 1990 jährlich veröffentlicht. Methodik und Datengrundlage wurden kontinuierlich erweitert. Relevant sind nicht nur das Bruttoinlandsprodukt, sondern auch Bildungs- und Gesundheitsstatistiken. Der HDI ist das am besten ausgearbeitete Maß für Entwicklung, das es gibt.
Im Jahr 2000 einigten sich die UN auf die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs), die ebenfalls von Sen und gleichgesinnten Fachleuten wie Mahbub ul Haq inspiriert waren. Zentral waren abermals Gesundheit und Bildung.
Anhaltender Wachstumsglaube
Leider hat die internationale Gemeinschaft den Wachstumsfundamentalismus trotzdem nie abgelegt. Konventionelle Volkswirtschaftslehre, Kapitalmärkte und Wirtschaftspresse betonen weiterhin die Bedeutung von Wachstum und behandeln Verteilungsgerechtigkeit allenfalls als Nebensache. Wer danach fragt, wird schnell des gefährlichen Wunschdenkens beschuldigt, das, sollte es umgesetzt werden, nur dem Gemeinwohl schaden würde.
Das liegt mit daran, dass, wer privates Kapital anlegt, generell die höchsten Erträge dort erwartet, wo eine Volkswirtschaft schnell expandiert. Regierungen weltweit wollen dieses Kapital anlocken. Dafür gelten niedrige Steuern und niedrige Staatsausgaben als wichtig.
Empirisch ist dieses marktradikale Weltbild falsch. Die höchsten Wachstumsraten verzeichneten Nordamerika und Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, als Steuerquoten hoch waren und Regierungen großzügig in harte und weiche Infrastruktur investierten (einschließlich Bildungs- und Gesundheitswesen). Soziale Sicherungssysteme wurden ausgebaut und Ungleichheit verringert.
Dennoch hat die Marktorthodoxie die Politik der vergangenen Jahrzehnte weltweit geprägt. Der Einfluss multinationaler Konzerne ist gewachsen, und die Superreichen reklamieren einen immer größeren Anteil der Wirtschaftsleistung für sich. Weil nur die Möglichkeiten einer kleinen Minderheit wachsen – und zwar auf Kosten aller anderen –, ist das mit Sens Vorstellung von menschlicher Entwicklung nicht vereinbar.
Während in der Coronapandemie viele Menschen in Armut abstürzten, stieg die Zahl der Dollar-Milliardäre allein in Indien um beinahe zwei Drittel auf 166. HDI-Werte verschlechterten sich in vielen Ländern.
Derweil eskaliert die Klimakrise rasant. Sie belastet Oligarchen kaum, sehr wohl aber Massen armer Menschen weltweit. Es dürfte auch noch schlimmer kommen. Wir laufen Gefahr, den Planeten zu verlieren, und dürfen das nicht zulassen.
Multilaterale Institutionen erkennen die Umweltrisiken. Wir haben UN-Konventionen zu Klimawandel, Biovielfalt und ,Wüstenbildung. Internationale Verhandlungen laufen auch über andere Ökothemen. Die UN haben nach den MDGs zudem die SDGs als Nachfolgeagenda beschlossen. Sie verknüpft Umweltschutz mit menschlicher Entwicklung.
Entschlossen handeln
Die Absichten sind gut. Leider folgt auf kluge Rhetorik allerdings regelmäßig nur halbherzige Politik. Im Zweifel geben Regierungen Wirtschaftsinteressen Vorrang, folglich wird weltweit zu wenig in soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz investiert. Dieser Trend führt ins Verderben. Nationaler Erfolg ist nicht auf Kosten des globalen Gemeinwohls möglich.
Die stimmig konzipierten SDGs sind nur erreichbar, wenn die internationale Gemeinschaft ein entsprechendes Rahmenprogramm beschließt. Es muss
- erläutern, wie Regierungen bessere Entwicklungsergebnisse bekommen sollen, ohne die Umwelt zu zerstören, und
- die Finanzierung entsprechender Politik sicherstellen.
Selbstverständlich müssen Nationalstaaten Verantwortung übernehmen. Was souveräne Regierungen leisten können, ist aber begrenzt, denn globale Probleme überfordern ihre Kapazitäten. Zugleich beschränkt die Marktorthodoxie die Finanzkraft öffentlicher Haushalte oft stark. Besonders Länder mit niedrigen Einkommen haben nur geringen Handlungsspielraum.
Die Menschheit braucht mehr und bessere Zusammenarbeit. Leider ist das unwahrscheinlich, denn Kooperation erfordert Konsens oder wenigstens Kompromiss. Wachsende Polarisierung – vor allem zwischen den Supermächten China und USA – erschwert beides. Leider verhalten sich weder die beiden Supermächte noch ihre Verbündeten vorbildlich.
Praveen Jha ist VWL-Professor an der Jawaharlal Nehru University in Delhi.
praveenjha2005@gmail.com