Governance

Rückschlag für globale Entwicklung

Laut Human Development Report haben sich wichtige Kennzahlen in den Jahren 2020 und 2021 erheblich verschlechtert. Fortschritte bei den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDG – Sustainable Development Goals) wurden zunichtegemacht. Viele Länder sind auf den Stand von 2016 zurückgefallen.
Titelseite des Human Development Report. UNDP Titelseite des Human Development Report.

Zwei Jahre in Folge ging die globale Entwicklung zurück, wie der Human Development Report (HDR) 2021/2022 berichtet. Er wird herausgegeben vom UN-Entwicklungsprogramm (UNDP – United Nations Development Programme). Das ist ein Novum in der 32-jährigen Geschichte des Reports, der die Entwicklung von Ländern anhand des Human Development Index (HDI) beurteilt, basierend auf Lebenserwartung, Bildungsniveau und Lebensstandard.

In den vergangenen 30 Jahren haben sich die Kennzahlen der am wenigsten entwickelten Länder in der Regel deutlich stärker verbessert als die von Mitgliedsländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD – Organisation for Economic Co-operation and Development). Die OECD ist ein Verbund von reichen Ländern und einigen Schwellenländern. Während der Covid-19-Pandemie haben sich die beiden Gruppen allerdings auseinanderentwickelt. Die Ungleichheiten – auch zwischen den Geschlechtern – haben zugenommen und werden aller Voraussicht nach auch weiterhin bestehen.

Mehr als 90 Prozent aller Länder haben 2020 oder 2021 sinkende Entwicklungswerte verzeichnet. So ist etwa der Lebensstandard in Südasien deutlich gesunken. Die Lebenserwartung weltweit fiel von 72,8 (2019) auf 71,4 Jahre (2021), das hat maßgeblich zum Knick im HDI beigetragen. Covid-19 hat die Lebenserwartung erheblich negativ beeinflusst, aber auch andere Bereiche wie den Arbeitsmarkt und die Bildungssituation.

Diese Gesamtentwicklung kommt wenig überraschend, weil globale Ereignisse wie die Pandemie und der Krieg in der Ukraine den weltweiten Aufschwung ins Stocken gebracht haben. Hinzu kommen extreme Temperaturen, Brände, Stürme und Überschwemmungen. All das hat die Grenzen des Regierungshandelns auf globaler Ebene aufgezeigt. Laut dem Report befindet sich die Menschheit in einem Zustand der Lähmung. Sie stolpert von einer Krise in die nächste und ist nicht in der Lage, die Ursachen der Probleme zu bekämpfen. Die Autor*innen werfen die Frage auf, weshalb der dringend benötigte Wandel ausbleibt.

Ungewissheit und Verunsicherung   

In dem Bericht wird auch betont, dass die Menschheit es zwar schon früher mit Krankheiten, Kriegen und Umweltkatastrophen zu tun hatte, dass aber die Zukunftssorgen derzeit zunehmen – und sich von früheren Sorgen unterscheiden. Psychische Probleme nehmen zu. Die Autor*innen identifizieren drei Quellen der Verunsicherung, die sich gegenseitig beeinflussen:

1. Das Anthropozän und seine Ungleichheiten: Der Begriff bezeichnet ein neues geologisches Zeitalter, das sich durch vom Menschen verursachte Veränderungen auf unserem Planeten auszeichnet. Damit gehen wachsende Ungleichheit und Ungleichgewichte in der Machtverteilung einher. Jene Teile der Weltbevölkerung, die wenig zu aktuellen Krisen, etwa der Klimakrise, beigetragen haben, bekommen diese voraussichtlich am stärksten zu spüren. So wird etwa extreme Hitze in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen einen besonders starken Einfluss auf die Sterblichkeit und den Arbeitsmarkt haben.

Zu den Auswirkungen des Anthropozäns gehören auch die Bedrohung durch Atomwaffen, vermehrte Zoonosen und die Ausrottung von mehr als einer Million Spezies. Unsicherheiten im Anthropozän beeinträchtigen die psychische Gesundheit, etwa durch:

  • traumatisierende Ereignisse,
  • körperliche Krankheiten,
  • allgemeine Angst vor der Klimakrise und
  • Ernährungsunsicherheit.

Die Erderwärmung selbst verschärft verschiedene Formen der Ungleichheit.

2. Tiefgreifende soziale und technologische Veränderungen: Das Anthropozän bringt eine ganze Reihe neuer Herausforderungen und Unsicherheiten mit sich. Um dafür Lösungen zu finden und den Druck auf den Planeten zu verringern, muss sich die Art und Weise, wie Gesellschaften leben, arbeiten und mit der Natur interagieren, grundlegend verändern. Dazu könnten Maßnahmen gehören, die Gesellschaften und Industrien auf erneuerbare Energien umstellen und neue grüne Technologien einführen. Damit wird Neuland betreten, was vielfältige, noch nie da gewesene und ungleiche Auswirkungen haben kann. Der Bericht bezeichnet dies als „Unsicherheit im Übergang“ („transitional uncertainty“).

Ein Beispiel hierfür sind die Unwägbarkeiten, die mit der Schaffung zusätzlicher 24 Millionen grüner Arbeitsplätze weltweit bis 2030 verbunden sind, um den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zu schaffen. Diese Arbeitsplätze werden sich möglicherweise nicht in jenen Regionen befinden, in denen Arbeitsplätze wegbrechen, wenn fossile Industrien dichtgemacht werden. Sie könnten auch neue Qualifikationen erfordern. Darüber hinaus treibt der zunehmende Einsatz von Automatisierungstechniken und künstlicher Intelligenz den technologischen Wandel voran – und damit auch Unsicherheiten, die mit diesem Übergang verbunden sind.

3. Politische und soziale Polarisierung: Der Bericht stellt fest, dass die Polarisierung zunimmt, während zugleich demokratische Charakteristika in politischen Systemen abnehmen. Dies wird begünstigt durch die Verbreitung von Falschinformationen, die dazu führt, dass verschiedene Gruppen keine gemeinsame Faktenbasis finden. So entsteht eine weitere Ebene der Unsicherheit: Die Menschen wissen nicht mehr, was sie glauben sollen. Das führt zur Erosion von Vertrauen und einer Kluft, sowohl innerhalb einer Gesellschaft als auch zwischen verschiedenen Gesellschaften.

Im Bericht wird argumentiert, dass diejenigen, die sich am unsichersten fühlen, auch eher extreme politische Ansichten vertreten. Darüber hinaus nimmt nach einem Schock, etwa einer Finanzkrise, die Unterstützung für politische Extrempositionen zu. Unsicherheit und politische Polarisierung verstärken sich also gegenseitig – und verhindern so kollektives Handeln.

Kurz gesagt sieht der Bericht menschliche Entwicklung „nicht nur als Ziel, sondern auch als Mittel für einen Weg nach vorn in unsicheren Zeiten“, wie UNDP-Chef Achim Steiner im Vorwort schreibt. Betont wird die Wechselbeziehung von Lösungsansätzen auf unterschiedlichen Ebenen: Um nationale Probleme zu lösen, müssen wir globale Probleme lösen – und umgekehrt.

Literatur
UNDP: Human Development Report 2021/2022. Uncertain times, unsettled lives: Shaping our future in a transforming world.
https://hdr.undp.org/system/files/documents/global-report-document/hdr2021-22pdf_1.pdf

Roli Mahajan
ist freie Journalistin und lebt im nordindischen Lucknow.
roli.mahajan@gmail.com