Internationale Beziehungen
Globale Entwicklung braucht globale öffentliche Güter
Der Begriff „Entwicklung“ ist schwer zu definieren, obwohl er in akademischen und politischen Kreisen sowie der breiten Öffentlichkeit weit verbreitet ist. Er steht für sozialen Fortschritt, kann aber kontextabhängig verschieden interpretiert werden. Die dominierenden Bedeutungen haben sich im Laufe der Zeit verändert, der Begriff hat aber unweigerlich auch normative Komponenten.
Nach der Unabhängigkeit vieler europäischer Kolonien in Afrika und Asien nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Entwicklung zum Thema der internationalen Politik. Anfänglich herrschte großer, wenn auch ethnozentrischer Optimismus. „Unterentwickelte“ Länder sollten wirtschaftlich „durchstarten“, rückständige Traditionen ablegen und umfassende Veränderungen durchlaufen. Angestoßen von Finanzhilfen sollten sie dem Beispiel Europas und Nordamerikas (und in geringerem Maße Japans) folgen.
Rivalität im Kalten Krieg
Im Wettbewerb mit der Sowjetunion hoffte der Westen, sein Entwicklungsmodell in die sogenannte „Dritte Welt“ zu exportieren. Die von den USA in Lateinamerika gegründete Allianz für den Fortschritt sollte verhindern, dass andere Länder dem Beispiel Kubas nach der Revolution von 1959 folgten.
Die UN erklärte die 1960er Jahre zur ersten „Entwicklungsdekade“. Geostrategische Interessen bestimmten jedoch weiter die Politik der Geberländer. Zudem erwies sich Entwicklung als schwerer erreichbar als erwartet. Hilfsbemühungen blieben hinter den Erwartungen zurück.
Folglich prangerten lateinamerikanische Dependenztheoretiker das ethnozentrische und eigennützige Konzept des Westens an. Das internationale Wirtschaftssystem sei ungerecht und benachteilige Neulinge.
Größere Volkswirtschaften Lateinamerikas produzierten dann nötige Industriegüter selbst, um Importe zu ersetzen. Außerdem setzten sie auf große Infrastrukturprojekte, von denen die Weltbank viele finanzierte. Anfänglich hohe Wachstumsraten sprachen für ein „Durchstarten“.
Hohe Inflation und stagnierendes Wachstum („Stagflation“) prägten die 1970er Jahre, und eine Schuldenkrise folgte. Lateinamerikas Entwicklungsversprechen erfüllte sich eindeutig nicht. Trotz der Industrialisierung war die Abhängigkeit von ausländischen Finanzmitteln und multinationalen Unternehmen gewachsen. Soziale, wirtschaftliche und regionale Ungleichheiten blieben groß.
Die Tigerstaaten
Die 1990er Jahre brachten nicht nur das Ende des Kalten Krieges, sondern auch die Wirtschaftswunder der sogenannten Tigerstaaten: Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong. Mit einer geschickten Kombination aus marktorientierten Reformen und gezielten staatlichen Eingriffen schlossen sie zu den Industrienationen auf. Wesentlich waren Investitionen in die Bildung und die systematische Verbesserung staatlicher Kapazitäten. Die Tigerstaaten nutzten im großen Stil westliche Hilfe. Sie erzielten dauerhaftes Wirtschaftswachstum und bauten zugleich soziale und wirtschaftliche Ungleichheit ab. Sie bewiesen, dass eine integrative, endogene und langfristige Entwicklung möglich war.
Internationale Finanzinstitutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF – International Monetary Fund) und die Weltbank knüpften ihre Kreditvergabe an Entwicklungsländer an strenge Konditionen. Sie entsprachen dem Washington Consensus und waren mit marktorientierten Reformen verbunden. Das war besonders in Finanzkrisen wichtig. Um die Jahrtausendwende wurde aber klar, dass die von Fonds und Bank angestrebten „Strukturanpassungen“ nicht die gewünschten Resultate brachten. Schuldenerlasse wurde unumgänglich.
Folglich wurde der Begriff „Entwicklung“ zunehmend als Prozess verstanden, der über wirtschaftliche Dimensionen hinausgeht. Die Weltbank machte Armutsbekämpfung zu ihrem Hauptziel. Inspiriert von dem indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen hatte das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP – United Nations Development Programme) bereits damit begonnen, sich auf die „menschliche Entwicklung“ zu konzentrieren, bei der Bildung und Gesundheit als Voraussetzungen dafür gelten, dass die Menschen das Leben führen können, das sie sich wünschen. Sowohl Weltbank als auch UNDP sahen soziale Ungleichheit nun als Herausforderung.
Dennoch hielt die Skepsis gegen-über der Entwicklungszusammenarbeit an. Kritiker*innen behaupteten, die Hilfsmaßnahmen zeigten wenig oder gar keine Wirkung. William Easterly behauptete sogar, sie seien kontraproduktiv, weil sie Abhängigkeiten schafften und auf falschen Annahmen beruhten. Entwicklungspolitische Staatsausgaben blieben in Ländern mit hohen Einkommen weiterhin umstritten.
Derzeit verschiebt sich die Achse der wirtschaftlichen Entwicklung vom Nordatlantik nach Asien. China präsentiert ein Modell für fortdauerndes Wachstum und Armutsbekämpfung. Es basiert auf einer aggressiven Nutzung seines Binnenmarktes, ungehinderten staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft und Nutzung internationaler Wertschöpfungsketten. Der Aufstieg asiatischer Volkswirtschaften hat den sogenannten „globalen Süden“ zu einer sehr viel heterogeneren Kategorie gemacht, wobei manche behaupten, der Begriff selbst sei nicht mehr angemessen.
Chinas Aufstieg
China ist heute eine wichtiger Entwicklungsfinanzierer, nutzt aber nicht wie der Westen Konditionalitäten. Seine Kredite werden von vielen Ländern des Südens, vor allem in Afrika, gerne in Anspruch genommen. Nachdem es dem IWF und der Weltbank nicht gelang, die großen Schwellenländer wie gefordert einzubinden, schufen die BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) ihre eigenen Finanzinstitutionen, die Neue Entwicklungsbank, die in die Infrastruktur des Globalen Südens investieren soll, und das Contingent Reserve Arrangement. Auch die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank, die China mit vielen Partnerländern (einschließlich EU-Mitgliedern), initiiert hat, ist von Bedeutung.
Süd-Süd-Zusammenarbeit hat sich als Alternative zur westlichen Entwicklungshilfe etabliert und soll deren eigennützig-paternalistischen Top-down-Charakter vermeiden. Es gibt jedoch keine allgemein akzeptierte Definition der Süd-Süd-Kooperation. Auffallend ist, dass China heute vielleicht das schwierigste Geberland ist, wenn in Schuldenkrisen Umschuldung nötig wird.
Globale öffentliche Güter
Neben der Wirtschaft stehen heute Geschlechtergerechtigkeit, Menschenrechte und Umweltschutz im Fokus. Darüber hinaus wird die Bedeutung „globaler öffentlicher Güter“ anerkannt. Dazu gehört, den Klimawandel und Krankheiten zu bekämpfen sowie Frieden und Stabilität zu sichern. Einkommensstarke Länder haben die stärksten Kapazitäten und müssen hier mehr tun.
Es liegt in der Natur der Sache, dass globale öffentliche Güter nur in internationaler Zusammenarbeit geschaffen und geschützt werden können. Die Weltgemeinschaft hat nämlich beispielsweise Interesse daran, die Primärwälder zu schützen, aber in waldreichen Ländern wie Brasilien ist die Abholzung auf kurze Sicht lukrativ. Globale Zusammenarbeit ist deshalb unverzichtbar.
Viel davon spiegeln die Ziele für nachhaltige Entwicklung der UN (SDGs – Sustainable Development Goals) wider. Sie umfassen globale öffentliche Güter, bekräftigen aber auch die Notwendigkeit besserer Bildung, Gesundheitsversorgung und Infrastruktur. Die SDGs sind jedoch nicht verbindlich.
Die Erkenntnis wächst, dass die SDGs bei den derzeitigen Trends nicht erreicht werden. Regierungen streiten darüber, wer die finanzielle Last der SDG-Agenda übernehmen soll. Einige westliche Expert*innen wünschen sich größere Beiträge vom Privatsektor und von Philanthropen. Das wirft aber zwei Fragen auf:
- Wie können profitorientierte Unternehmen ertragsfreie öffentliche Güter bereitstellen?
- Und warum sollten superreiche Philanthropen wissen, was das Gemeinwohl wirklich erfordert?
Derweil werden auch neue Maßstäbe für die Messung und Bewertung der Entwicklungszusammenarbeit vorgeschlagen. Einer davon nennt sich Global Public Investment (GPI). Er würde die Nord-Süd-Kluft überbrücken und einen permanenten Fonds für Entwicklung schaffen. Länder würden gemäß ihrer Kapazitäten beitragen und Geld entsprechend ihres Bedarfs erhalten.
Gefährliche Polarisierung
Die Kriege in der Ukraine, im Gazastreifen und anderswo sind bedrohlich. Die Polarisierung zwischen dem US-geführten Westen auf der einen und Russland und China auf der anderen Seite nimmt zu. Höhere Militärausgaben bedeuten weniger Mittel für nachhaltige Entwicklung. Die Entwicklungsgelder werden wahrscheinlich wieder, wie im Kalten Krieg, den geostrategischen Interessen der Großmächte dienen.
Stattdessen bräuchten wir globale Zusammenarbeit und entschlossenes Handeln, um alle SDGs zu erreichen. Frieden ist übrigens ein wichtiges globales öffentliches Gut – und SDG 16 benennt ihn auch.
André de Mello e Souza ist Wirtschaftswissenschaftler beim staatlichen Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada (IPEA) in Brasília.
andre.demelloesouza@alumni.stanford.edu
X/Twitter: @A_MelloeSouza