Indien

Sorgen der Santals

Heranwachsende Adivasis haben ganz andere Probleme als die gebildete städtische Jugend Indiens, die in den Medien präsent ist. Unser Autor stammt aus einem Santal-Dorf und kennt die Herausforderungen.
Großdemonstration in Illambazar im Mai 2012. Boro Baski Großdemonstration in Illambazar im Mai 2012.

In Indien gab es in der jüngsten Vergangenheit viel politische Unruhe, Demonstrationen und sogar gewalttätige Ausschreitungen. Es ging um  Korruption, Gewalt gegen Frauen und andere Missstände. Es war beachtenswert wie viele Studenten, die großteils aus den Städten stammen, daran teilnahmen. Sie sind stimmgewaltig, unabhängig, aufgeklärt, voller Energie und träumen von einer guten Zukunft. Das ist die liberale und fortschrittliche Jugend Indiens.

Diese Heranwachsenden repräsentieren aber keineswegs die gesamte Jugend des Landes. Die Adivasis, die Ureinwohner Indiens, tauchen in den weit verbreiteten Medien nicht auf. Landesweite politische Themen interessieren diese jungen Leute kaum. Sie haben eigene, spezifische Probleme, mit denen sie klar kommen müssen. Adivasis machen acht Prozent der indischen Bevölkerung aus. 40 Prozent von ihnen sind jünger als 30 Jahre.

Wir Santals sind mit rund zwölf Millionen Angehörigen die zweitgrößte Ureinwohnergemeinschaft Indiens. Unser Volk lebt hauptsächlich in den Bundesstaaten Bihar, Jharkhand, Westbengalen und Assam. Bis zum 18. Jahrhundert waren unsere Stammesangehörigen Jäger und Sammler, die im Chota-Nagpur-Plateau herumwanderten. Heute sind wir sesshaft und leben hauptsächlich von Landwirtschaft.

Laut der indischen Volkszählung von 2001 leben 95 Prozent der westbengalischen Santals in ländlichen Gebieten, 53 Prozent von ihnen sind Arbeiter im landwirtschaftlichen Bereich. Der Rest ist ungelernt und arbeitet als Tagelöhner. Sehr wenige Santals sind als Lehrer oder Büroangestellte tätig.

Seit 2009 ein neues Bildungsgesetz (Right to Education Act) beschlossen wurde, ist der Anteil der Santalkinder, die zur Schule gehen, deutlich gestiegen. Fast die Hälfte bricht jedoch ohne Abschluss ab. Diese Adivasis kehren in der Regel später nicht wieder zur Schule zurück. Sie bilden sich auch nicht anderswo weiter. Die meisten sehen selbst nach einigen Schuljahren im Land ihrer Familie ihre einzige Lebensgrundlage. Doch die Bevölkerung wächst schnell und Grundbesitz wird immer weiter aufgeteilt. Von den winzigen Flächen können große Familien oft ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten.

Deshalb ziehen junge Leute in den Monaten, in denen es auf den Höfen wenig zu tun gibt, in benachbarte Distrikte und Bundesstaaten um Arbeit zu suchen – häufig zusammen mit Verwandten. Sie finden meist nur befristete, informelle Arbeit. Sie bekommen keinen Mindestlohn und sind weder arbeits- noch sozialrechtlich abgesichert. Genau genommen hängen sie vom Gutdünken der Großgrundbesitzer ab. Allzu oft werden Frauen und selbst Kinder körperlich und sexuell ausgebeutet.

 

Frust und Gewalt

Im Mai 2012 wurden zwei Santal-Arbeiter aus Jharkhand in der Nähe von Illambazar in Westbengalen brutal ermordet. Junge Einheimische hatten es auf ihre Frauen abgesehen und schütteten nachts Säure auf die Männer. Die lokale Polizei und Kommunalpolitiker griffen nicht ein, weil die Männer aus einem anderen Bundesstaat kamen.

Santals organisierten daraufhin eine Demonstration in Illambazar zusammen mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Jharkhand, Babulal Marandi. Dennoch bekam das Thema in der Öffentlichkeit nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient hätte. Dieser Vorfall reiht sich in eine lange Geschichte der Ausgrenzung ein, mit denen die Santals zu kämpfen haben. Den Großteil der indischen Bevölkerung interessiert das aber nicht.

Junge Santals versuchen Jobs in den Kohlegruben und Steinbrüchen von Jharkhand und Westbengalen zu bekommen. Diese werden von nationalen und internationalen Unternehmen betrieben. Die meisten Adivasi-Gemeinschaften leben in den rohstoffreichen Gebieten Indiens (siehe Aditi Roy Ghatak in E+Z/D+C 2012/06, S. 234 ff.).

Die Förderung von Rohstoffen geht oft mit gewalttätigen Konflikten einher. 2008 schoss beispielsweise die Polizei auf junge Santals. Diese protestierten dagegen, dass die Regierung Stammesland aufkaufte, um dort ein Unternehmen aus Kalkutta ein Kraftwerk bauen zu lassen. Die Polizei tötete zwei Demonstranten und verletzte Dutzende.

Korrupte Politiker und Regierungsbeamte, selbstsüchtige Mafiosi und Geldgeber haben das Sagen, wenn es um Rohstoffe geht. Oft spalten die Verantwortlichen örtliche Gemeinschaften durch eine Politik von „Teilen und Herrschen“ und lassen sie im Ungewissen über ihre Zukunft.

Am Traurigsten ist, dass Kriminelle viele junge Schulabbrecher mit Geld und der Aussicht auf Macht ködern und diese dann ihre eigene Gemeinschaft ausbeuten. Auch maoistische Milizen, die in Indien als Naxaliten bekannt sind, nutzen den Frust der Adivasi-Jugendlichen. Sie rekrutieren sie als Kämpfer oder missbrauchen sie in ihrem Guerillakrieg gegen den Staat als menschliche Schutzschilder.

 

Erfolg in der Schule

Unter den Santals schafft nur, wer sehr pfiffig ist und viel Glück hat, den Schul- oder gar Hochschulabschluss. Diejenigen, denen das gelingt, haben meist jemanden, der sie unterstützt und motiviert. Typischerweise ziehen sie bald nach dem Schulabschluss in die Städte, um dort ein Mittelschichtleben zu führen. Die Santal-Dörfer profitieren in der Regel nicht von den Bildungserfolgen ihrer Jugendlichen.

Der indische Staat hat mit viel Geld und gewaltiger bürokratischer Maschinerie verschiedene Entwicklungsprogramme für die Adivasi-Jugend aufgelegt. Auch andere Organisationen wie christliche und hinduistische Gruppen, politische Parteien und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) engagieren sich im Bildungssektor. Es gab auch einige Bildungserfolge, aber es gibt noch viel zu tun.

Jede Gruppe hat ihre eigenen Motive im Umgang mit den Santals. Nicht immer profitiert die Zielgruppe wirklich. Die staatlichen Programme sind in der Regel umständlich und ineffizient.

Die Parteien mobilisieren Santal-Jugendliche für Demonstrationen, an denen diese mit Trommeln und in bunter Kleidung teilnehmen. Die Funktionäre wollen den Eindruck erwecken, dass sie sich für Arme an der Basis einsetzen, auch wenn ihre Ziele nicht wirklich etwas mit dem Leben der Santals zu tun haben. Es ist bizarr, wenn junge Santals in den Straßen von Kalkutta gegen den Anstieg der Diesel-, Benzin- und Gaspreise demonstrieren. Diese Brennstoffe werden in ihren Dörfern kaum genutzt.

Religiöse Organisationen betreiben Schulen für die Adivasis und sind auch für gute Gesundheitseinrichtungen bekannt. Christen haben bei den Santals Pionierarbeit besonders im Bildungsbereich geleistet. Allerdings stehen sie immer unter dem Verdacht, ihr wahres Ziel sei die Bekehrung der Kinder zum Christentum. Sie werden auch beschuldigt, die Stammesgemeinschaft zu spalten, indem sie eine neue, christliche Elite schaffen.

Andererseits wird hinduistischen Organisationen die „Sanskritisierung“ der Santal-Kultur vorgeworfen. Dabei würden die spezifischen Merkmale der Stammeskultur ignoriert und ihre Traditionen dem Hinduismus zugerechnet. Die Santals kennen aber zum Beispiel keine soziale Hierarchie wie das Kastensystem der Hindus. Solche Kategorien einzuführen ist destruktiv.

 

Mentale Hindernisse

Dass Santal-Jugendliche persönlich, sozial und wirtschaftlich kaum vorankommen, liegt aber nicht nur an mangelnden Ideen und Ressourcen. Psychologische Blockaden können ebenso Ursache sein. Es fällt jungen Leuten oft schwer, sich von Traditionen zu lösen. Eine formale Schulbildung hilft in solchen Fällen auch nicht weiter.

Ein Beispiel dafür ist Mistri Kisku, ein Santal-Jugendlicher mit Schulbildung, der die Idee hatte, einen Friseursalon in unserem Dorf zu eröffnen. Es gibt hier keinen Friseur und die meisten Nachbardörfer haben auch keinen. Die einzigen zwei Friseursalons in der Gegend werden nicht von Santals betrieben. Um ein Haarschnitt zu bekommen, muss man bei ihnen Schlange stehen. 

Wir waren alle von Mistris Plan begeistert. Niemand von uns hatte je in diesem Beruf gearbeitet. Ein Friseur aus einer nahe gelegenen Stadt erklärte sich bereit, ihm das Handwerk beizubringen. Doch am Ende scheute sich Mistri, die Chance zu ergreifen, weil seine Mutter dagegen war. Sie sagte, Friseur sei kein Beruf für einen Santal. Der junge Mann war so eingeschüchtert, dass er gegen sein eigenes Interesse das tat, was die Mutter empfahl.

Die Geisteshaltung der Santals ist agrarisch geprägt und zielt auf Gleichheit ab. Stärker kaufmännisch und wettbewerbsorientiert zu denken, fällt den meisten schwer, wie ich in dieser Zeitschrift bereits ausgeführt habe (E+Z/D+C 2012/09, S. 333 ff.). Deshalb gibt es auch kaum erfolgreiche Geschäftsleute unter den Santals.

Mistris Beispiel zeigt, wie traditionelles Denken persönlichen Erfolg verhindern kann. Einige gebildete Santals behaupten sogar, dass unsere Kultur gegenläufig zur Moderne ist. Das stimmt aber nicht. Die Werte und Traditionen unserer Gemeinschaft spenden vielen Santals Trost, die von der modernen Gesellschaft nichts als Armut und Ausbeutung zu erwarten haben und sich hilflos und verwirrt fühlen.

Unser kulturelles Erbe ist reich. Sozialwissenschaftler und Anthropologen bewundern Lebensstil, Haushaltsorganisation und Sozialsystem unseres Volkes. Wir Santals lieben unsere Sprache, unseren Tanz und unsere Musik – und unser traditionelles, selbstgebrautes Reisbier. Musik und Tanz spielen eine wichtige Rolle, um unser Gemeinschaftsgefühl aufrecht zu erhalten. Die Lieder sind wunderschön und werden mit Leidenschaft vorgetragen. Sie haben sich praktisch nicht verändert, obwohl sich die Bollywood-Kultur auch in unseren Dörfern über Fernsehen und elektronische Geräte aggressiv ausbreitet.

 

Suche nach Gleichgewicht

Santals müssen ein Gleichgewicht zwischen Tradition und Moderne finden. Einige gebildete junge Leute wie Rathin Kisku aus Westbengalen und Lalsushant Soren oder Stephen Tudu aus Jharkhand vereinen traditionelle Santal-Musik mit gängiger indischer Musik. Die meisten jungen Leute befürworten solche Neuinterpretation, wohingegen Traditionalisten wie Ram Kisku, ein bedeutender Santal-Sänger, diese ablehnt. Er meint, dass dadurch das Wesen unserer Musik verloren geht.

Der Lehrer Sibu Soren hat sein persönliches Gleichgewicht gefunden. Er stammt aus einem Santal-Dorf. Um sich ein neues Leben aufzubauen, ist er aber in die Kleinstadt Shantiniketan gezogen. Er schickte seine Kinder auf eine Privatschule und kaufte zwei Motorräder – eins für sich und eins für seine Frau. Seine Eltern im Dorf waren stolz auf das, was er erreicht hatte und sahen in ihm ein Vorbild, wie ein gebildeter Santal zu leben hat.

Nach ein paar Jahren bemerkte Sibu jedoch, dass er seine kulturelle Umgebung vermisste. Das Leben unter den Bengalen von Shantiniketan erschien ihm erdrückend und leer und so kehrte er in sein Dorf zurück. Jetzt führt er zusammen mit anderen gebildeten Freunden eine Abendschule. Er gibt außerdem ein Magazin in Santali heraus und gründete eine Theater- und Musikgruppe. Die Regierung von Westbengalen ehrte ihn kürzlich für seine Verdienste um die Kultur der Santals. Er ist in der Tat zu einem Vorbild geworden – leider haben nur sehr wenige Santal-Dörfer jemanden wie ihn.

 

Boro Baski ist Lehrer und Sozialarbeiter der in Gemeinden tätigen Organisation Ghosaldanga Adibasi Seva Sangha in Westbengalen. Er war der Erste aus seinem Dorf, der die Universität abschloss und sogar einen Doktortitel (in Sozialarbeit) erwarb. Die Adibasi Seva Sangha wird von der deutschen NGO Freundeskreis Ghosaldanga und Bishnubati unterstützt.
borobaski@gmail.com