Wahlen
Die erste Frau an Mexikos Staatsspitze
Mehrere Faktoren haben dazu beigetragen, dass Claudia Sheinbaum mit spektakulären 60 Prozent der Stimmen bei hoher Wahlbeteiligung als erste Frau an die Staatsspitze gewählt wurde. Wichtig waren die Beliebtheit ihres Vorgängers Andrés Manuel López Obrador – als AMLO bekannt – und seine unermüdliche Unterstützung. Morena, die Linkspartei, der beide angehören, wurde so stark, dass manche sagen, die politische Landkarte sei nun kirschrot. Das ist die Parteifarbe.
Der ersten Präsidentin mag AMLOs Charisma fehlen, aber sie leuchtet auf eigene Weise. Sie hat sich als Naturwissenschaftlerin einen Namen gemacht und wichtige politische Ämter bekleidet. Zuletzt war sie Regierungschefin von Mexiko-Stadt, wo sie einiges in Sachen Verkehrsmanagement, Umweltschutz und öffentliche Sicherheit erreichte. Sie gewann sogar Stimmen von Leuten, die wenig von AMLO halten.
Dass die Opposition überhaupt nicht überzeugend wirkte, war ebenfalls wichtig. Besonders im ländlichen Raum agitierte sie an den Menschen vorbei. Ihre Verbundenheit mit den Oberschichten war allzu offensichtlich. Dass sie aggressiv einen dritten Kandidaten angriff, weil dieser gemeinsames Handeln gegen Sheinbaum/AMLO untergrabe, half nicht.
Die großen Oppositionsparteien versäumten es, Lehren aus ihrer Niederlage 2018 gegen AMLO zu ziehen. Im Amt gelang es ihm, sie als Gegner des Gemeinwohls zu brandmarken. Es wirkte opportunistisch und war sogar von AMLO inspiriert, dass die beiden Mitte-rechts-Parteien PRI und PAN zusammen mit der linken PRD Xóchitl Gálvez zu ihrer Spitzenkandidatin machten. Politisch unterstützen sie weiter Eliteninteressen, stellten aber eine Frau mit indigenem Arbeiterklassenhintergrund auf. Das schien unehrlich. Mittlerweile geben einige Spitzenleute der genannten Parteien zu, es sei ihnen als Opposition misslungen, den Menschen eine Alternative zur AMLO-Regierung attraktiv zu machen.
In Mexiko ist ohnehin die Erinnerung an die Korruptionsfälle und gebrochenen Wahlversprechen der Vergangenheit noch wach. Die PRD, die lange als starke politische Kraft galt, schnitt so schlecht ab, dass sie ihren Status als nationale Partei verlor.
Riesige Aufgaben
Eine linke Frau wird nun ein Land führen, das tief von Machismo und Katholizismus geprägt ist. Sie kommt aus einer säkularen jüdischen Familie und sagt, sie sei nicht religiös. Von 125 Millionen Menschen in Mexiko gehören nur 70 000 dem Judentum an. Der Glaube spielte in den Wahllokalen aber keine Rolle.
Sheinbaum steht nun vor riesigen Aufgaben, von denen die eskalierende Gewalt vermutlich die größte ist. In jüngster Zeit wurden in Wahlkämpfen mehr als 30 Kandidat*innen für verschiedene öffentliche Ämter getötet. Die Präsidentin wird auch beweisen müssen, dass sie selbst entscheidet und nicht unter der Fuchtel AMLOs steht. Sie selbst hat jedoch Kontinuität versprochen und will das fortsetzen, was er Mexikos „vierte Transformation“ nennt. Dazu gehören umstrittene Justizreformen, für die sie sich ausgesprochen hat.
Als erste Frau im Präsidentenamt kann sie Zielscheibe von geschlechtsspezifischen Attacken werden. Die Leute wollen, dass AMLOs sozialpolitische Reformen weitergehen, zugleich aber auch Fortschritt auf Feldern sehen, wo es unter ihm bergab ging. Das war vor allem die innere Sicherheit, aber auch – nicht zuletzt wegen Corona – das Gesundheits- und Bildungswesen. Er enttäuschte Feministinnen auch mit seiner herablassenden Haltung und wegen der anhaltend hohen Zahl weiblicher Mordopfer. Umweltgruppen mochten sein Faible für fossile Energie nicht und wollen, dass die Klimawissenschaftlerin Sheinbaum die Ölförderung drosselt.
Die Erwartungen sind hoch. Es herrscht vorsichtiger Optimismus, dass Sheinbaum liefern kann.
Virginia Mercado ist Gesellschaftswissenschaftlerin an der Universidad Autónoma del Estado de México mit den Spezialgebieten Friedens- und Entwicklungsforschung.
virmercado@yahoo.com.mx