Glaube und Entwicklung

Gestaltungskraft nutzen

Acht von zehn Menschen auf der Welt sagen: „Ich gehöre zu einer Glaubensgemeinschaft!“ Das zeigt, dass Religion auch im 21. Jahrhundert relevant ist. Besonders gilt das für Länder des globalen Südens. Die Einflussmöglichkeiten von Religionsvertretern bergen ein nichtstaatliches Gestaltungspotenzial, das die Entwicklungspolitik stärker nutzen sollte.
Papst Franziskus und Fidel Castro: Religion ist eine Quelle nichtstaatlichen Einflusses. Castro / picture-alliance / AP Photo Papst Franziskus und Fidel Castro: Religion ist eine Quelle nichtstaatlichen Einflusses.

In 40 Partnerländern der deutschen Entwicklungspolitik geben vier von fünf Menschen an, dass ihnen Religion „sehr wichtig“ sei. In Nigeria gehen 90 Prozent der Bevölkerung jede Woche in die Kirche oder Moschee. Zum Vergleich: In Deutschland machen sich lediglich rund sechs Prozent der Bevölkerung regelmäßig auf den Weg zum Gottesdienst.

In Entwicklungsländern prägen Religion und Religionsgemeinschaften auch den Entwicklungsprozess – wenn auch gelegentlich auf ambivalente Weise: Im Namen von Religionen wurden und werden Menschen tyrannisiert, verfolgt und getötet und bereits erreichte Entwicklungserfolge wieder zunichtegemacht. Von Anfeindungen, Übergriffen, fehlendem staatlichen Schutz und staatlicher Diskriminierung sind Angehörige aller Religionen weltweit betroffen.

Gleichzeitig schätzt die Weltbank, dass in Subsahara-Afrika fast die Hälfte aller Leistungen im Gesundheits- und Bildungswesen von religiösen Akteuren erbracht wird. Und in vielen Krisensituationen und instabilen Ländern sind Kirchen und ihre Partner die Einzigen, die notleidenden Menschen vor Ort auch dort zur Seite stehen, wo staatliche Entwicklungszusammenarbeit nicht, nicht mehr oder noch nicht möglich ist.

In diesem Spannungsfeld muss sich die Entwicklungspolitik verorten. Unzweifelhaft haben Fragen nach der Rolle von Religionsgemeinschaften im Entwicklungsprozess, der Beziehung zwischen Staat und Kirchen und den Einflussmöglichkeiten der Kirchen auf die Meinungs- und Willensbildung in Entwicklungsländern an Aktualität und Dringlichkeit deutlich zugenommen. Umso erstaunlicher ist es, dass diese Fragen bisher keine maßgebliche Rolle in der Praxis spielten. Dabei besteht hier enormes Potenzial, denn Religion prägt die Wertvorstellungen vieler Menschen, beeinflusst die Weltsicht, den Lebensstil und das Engagement vieler Menschen und kann starke politische und gesellschaftliche Gestaltungskraft entfalten.

„Religion kann Brücken bauen und Menschen motivieren, sich für andere und die Umwelt einzusetzen. Dieses Potenzial haben wir viel zu lange vernachlässigt“, stellte Bundesentwicklungsminister Gerd Müller kurz nach seinem Amtsantritt fest.

Wir müssen Wege finden, moderate religiöse Kräfte stärker in unsere Entwicklungspolitik einzubeziehen und für ein friedliches Zusammenleben zu nutzen. Dafür hat das BMZ eine interne Task Force Werte, Religion und Entwicklung eingerichtet. Zudem lädt das Ministerium mit der neu geschaffenen Veranstaltungsreihe „Religion Matters!“ regelmäßig hochrangige Religionsvertreter ein, die in informeller Runde neue Impulse geben. Die Zukunftscharta, die in einem breiten Dialog mit der Zivilgesellschaft erarbeitet wurde und formuliert, wie wir in Zukunft leben wollen, widmet dem Thema Religion sogar ein eigenes Ka­pitel.

Auch international treiben wir das Thema voran: Im Juli veranstaltete das BMZ gemeinsam mit der Weltbank, den UN und den größten bilateralen Gebern in Washington eine Konferenz zur Rolle von Religion in der internationalen Zusammenarbeit. Am 17. und 18. Februar 2016 soll die Folgekonferenz zu einer besseren Vernetzung von Entwicklungsorganisationen und religiösen Akteuren beitragen. Nur so können die Religionsgemeinschaften Teil einer neuen globalen Partnerschaft werden, wie sie die Post-2015-Agenda der Vereinten Nationen vorsieht.


Unabhängigkeit vom Staat

Die Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche ist keinesfalls neu. Das BMZ arbeitet bereits seit mehr als 50 Jahren mit den beiden großen christlichen Kirchen zusammen. Vorteil kirchlicher Entwicklungsvorhaben ist, dass die Kirchen unabhängig vom Staat und strikt nach dem Partner- und Antragsprinzip arbeiten. Das BMZ schätzt ihre langjährigen Erfahrungen, gewachsenen Netzwerke und Partnerstrukturen sowie ihre besondere Nähe zu den Ärmsten der Armen.

Ein aktuelles Beispiel: Nach Ausbruch des Ebola-Virus in Sierra Leone konnten die Kirchen aufgrund langjähriger Kontakte und auf Initiative ihrer Partner vor Ort schneller als staatliche Organisationen konkrete Maßnahmen ergreifen.

Der Ebola-Ausbruch zeigte beispielhaft auch, wie wichtig Religion für die Überwindung von Krisen und für die Veränderung von destruktiven Traditionen ist. Ein Grund für die rasante Verbreitung des Virus war der Ritus der Totenwaschung. Traditionell werden Verstorbene in Westafrika vor dem Begräbnis von der Familie gewaschen oder zur Verabschiedung umarmt – genau das birgt jedoch die größte Ansteckungsgefahr. Erst nachdem Priester und Imame die Bevölkerung darüber aufklärten, dass diese Tradition nicht moralisch geboten und im Kontext der Krankheit sogar gefährlich ist, folgten viele Menschen internationalen Appellen, mit ihr zu brechen.

Initiativen, die von Glaubensgemeinschaften ausgehen, werden oft von einem großen Teil der Gesellschaft mitgetragen. Sie können langfristig zu fest etablierten Bestandteilen des wirtschaftlichen und politischen Lebens werden.

Das gilt nicht nur für Entwicklungsländer, sondern auch für uns. Ein Beispiel dafür ist der faire Handel. Er ist aus einer Initiative katholischer und evangelischer Jugendverbände mit Unterstützung der Hilfswerke Misereor und Brot für die Welt entstanden. 1970 organisierten sie als Kritik an der Entwicklungspolitik Hungermärsche in 70 deutschen Städten. Daraus entstand ein Jahr später die Bewegung „Aktion Dritte Welt Handel“, aus der dann die Weltläden hervorgingen.

Heute ist das Konzept des fairen Handels in Deutschland fest etabliert – mit beachtlichen Wachstumsraten. 2014 erreichte der faire Handel einen Umsatz von über einer Milliarde Euro – gut zehnmal mehr als 2004. Ausgehend von einer kleinen kirchlichen Initiative wurde der faire Handel zu einem erfolgreichen Wirtschaftssektor, der ein Alternativ­modell zum Großteil des Wirtschaftens von Industrieländern darstellt und in Ländern des globalen Südens durch faire Löhne und gute Produktionsbedingungen praktische Hilfe zur Selbsthilfe leistet.

„Eine andere Welt ist möglich – und sie steckt schon in dieser.“ Dieses Zitat des französischen Lyrikers Paul Éluard beschreibt die Möglichkeiten, die sich in der Entwicklungspolitik heute bieten. Gelungene Entwicklung baut auf bestehenden Strukturen auf und bezieht Kultur und Religion in politisches Handeln ein. Es geht darum, Menschen weltweit ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit, Frieden und Würde zu ermöglichen, und zwar unabhängig von Nation, Geschlecht, Ethnie oder Religion.

 

Bernhard Felmberg leitet die Unterabteilung für Zivilgesellschaft, Kirchen und Wirtschaft in der Entwicklungszusammenarbeit im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).
bernhard.felmberg@bmz.bund.de

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