Infrastrukturprojekte
Der Preis für Entwicklung
Groß angelegte Entwicklungsprojekte wie Staudämme, Kraftwerke, Bergwerke und Transportkorridore sollen ganzen Volkswirtschaften zugutekommen. Es gibt jedoch zahlreiche Belege dafür, dass schutzbedürftige Gemeinden dafür einen hohen Preis zahlen.
Vertreibung bedeutet unsägliches Leid, Verarmung und die Zerstörung ganzer Gemeinschaften. Obwohl die Bank seit Jahrzehnten verspricht, die Auswirkungen auf Vertriebene zu minimieren, setzt sich die Enteignung fort.
Große Infrastrukturprojekte erfordern viel Land. Selbst für harmlos klingende Projekte wie die Modernisierung städtischer Armenviertel, die Anpflanzung von Wäldern zur Aufnahme von Kohlenstoff und die Schaffung von Schutzgebieten für Biodiversität werden große Landflächen gebraucht. Meist leben dort bereits Menschen, deren Lebensunterhalt vom Land abhängt. Unter Vertreibung leiden Frauen, Kinder und indigene Völker unverhältnismäßig stark. Ihre Armut wird verschlimmert, nicht gemindert.
Die Gesamtzahl der von Entwicklungsprojekten vertriebenen Menschen – ob von der Weltbank unterstützt oder nicht – ist nicht bekannt. Verlässliche Statistiken zu diesem Thema werden nicht erstellt. Meist wird eine Schätzung von 15 Millionen Menschen pro Jahr zitiert. Michael Cernea, Entwicklungssoziologe und führender Forscher zum Thema Zwangsumsiedlung, lieferte diese Zahl 2007 in seiner Analyse „Can compensation prevent impoverishment?“.
Cernea verfasste den ersten Maßnahmenkatalog der Bank zur Entschädigung von Opfern unfreiwilliger Umsiedlungen, der 1980 verabschiedet wurde. Er fordert, Umsiedlungen möglichst zu vermeiden, und verlangt, dass Menschen danach nicht schlechter gestellt werden (siehe meinen Beitrag im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Paper 2017/07).
Zwangsumsiedlungen und Räumungen, die kaum kompensiert werden, sowie die Androhung solcher Räumungen geschehen jedoch trotz massiver Proteste weiter. Entlang des indischen Narmada-Flusses beispielsweise gibt es seit über 30 Jahren Proteste gegen Staudämme, die ganze Dörfer überfluten würden.
Angesichts der Proteste setzte die Weltbank eine Kommission ein, die ihre Beteiligung an den Narmada-Staudämmen untersuchte. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Bank gegen ihre eigene Politik zu Zwangsumsiedlungen verstieß. 1993 wurde der Inspektionsausschuss der Bank eingesetzt, der Beschwerden im Zusammenhang mit Weltbankprojekten untersuchen soll. Laut einem Bericht des Ausschusses von 2016 betrafen mehr als zwei Drittel der Beschwerden unfreiwillige Umsiedlungen.
Diese Beschwerden sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Auswirkungen von Vertreibungen sind nach wie vor schlecht dokumentiert. Massive Machtungleichgewichte sowie Unterdrückung, große Entfernungen und Erschöpfung, die durch den täglichen Kampf ums Überleben verursacht werden, machen Protest schwierig und gefährlich.
2015 schätzte das International Consortium of Investigative Journalists, dass von 2004 bis 2013 in den von der Weltbank unterstützten Projekten 3,4 Millionen Menschen physisch oder wirtschaftlich vertrieben wurden. Die Bank versäumte nicht nur, Vertriebene angemessen zu entschädigen, sie wusste auch nicht über ihren Verbleib Bescheid.
Seither hat die Weltbank die Verantwortung für die Einhaltung der Sozial- und Umweltstandards ihrer Projekte verstärkt auf die Kreditnehmer verlagert. Erfahrungsgemäß verbessert sich die Situation dadurch kaum. Regierungen von Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen sind tendenziell bereit, das Wohlergehen marginalisierter Gemeinschaften zugunsten von „Entwicklung“ zu opfern.
Als die UN ihre Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung auf den Weg brachten, versprachen sie, dass „niemand zurückgelassen wird“. Null Toleranz für Projekte, die Menschen ohne angemessene Entschädigung umsiedeln, wäre ein guter Anfang.
Link
International Consortium of Investigative Journalists:
https://www.icij.org/investigations/world-bank/how-world-bank-broke-its-promise-protect-poor/
Korinna Horta ist eine unabhängige Wissenschaftlerin und Forscherin an der Universität von Lissabon.
korinna.horta@gmail.com