Ernährungssicherheit

„Kleinbäuerliche Betriebe müssen an Innovationen teilhaben“

Das Global Forum on Agricultural Research and Innovation (GFAR) bringt Hunderte von Akteuren des Agrarsektors weltweit zusammen. Exekutivsekretärin Hildegard Lingnau erklärt, wie sie kleinbäuerliche Betriebe aus dem globalen Süden stärker in die Agrarforschung einbinden möchte – und weshalb echte Innovation mehr ist als nur technischer Fortschritt.
Small-scale farmer in Zimbabwe. picture-alliance/EPA-EFE/AARON UFUMELI Small-scale farmer in Zimbabwe.

Hunger und Unterernährung bis zum Jahr 2030 zu beenden, so lautet das zweite UN-Ziel für nachhaltige Entwicklung (SDG2 – Sustainable Development Goal). Derzeit leidet allerdings einer von zehn Menschen weltweit Hunger. Lebensmittel gibt es genug, sie sind aber ungleich verteilt. Lässt sich SDG2 überhaupt noch erreichen?
Dieses Entwicklungsziel wird wohl leider nicht erreicht werden, das stellt zumindest ein Bericht des UN-Generalsekretärs zum Fortschritt bei den SDGs fest. Voraussichtlich wird sich die Situation zunächst sogar verschlimmern: Im Jahr 2020 hungerten schätzungsweise 161 Millionen Menschen mehr als 2019. Insgesamt waren 2,4 Milliarden Menschen von Ernährungsunsicherheit betroffen. Die UN schließt daraus, dass es wahrscheinlich zu einer globalen Ernährungskrise kommen wird. Wir müssen erheblich mehr tun als bisher, um SDG2 noch zu retten oder um überhaupt Fortschritte bis 2030 zu erzielen.

Was muss geschehen?
Einfache Lösungen gibt es nicht. Aber klar ist, dass wir kleinbäuerliche Familienbetriebe stärker in den Mittelpunkt rücken müssen. Sie machen 84 Prozent aller Agrarbetriebe aus und produzieren etwa 35 Prozent der Nahrung weltweit. Wir müssen uns auch anders ernähren, beispielsweise den Fleischkonsum reduzieren.

Sie arbeiten für das GFAR daran, die Welt besser mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Wo liegen Ihre Schwerpunkte?
Das GFAR ist ein Netzwerk von Netzwerken. Wir arbeiten mit Hunderten von Akteuren zusammen, die das Agrar- und Ernährungssystem verändern möchten, darunter Zusammenschlüsse bäuerlicher Betriebe, Forschungseinrichtungen und zivilgesellschaftliche Organisationen. Wir helfen ihnen dabei, sich zu vernetzen, ihren Stimmen mehr Gewicht zu verleihen und sie besser in die globale Agrarforschung einzubinden. Das GFAR lebt von den Initiativen seiner Mitglieder, von den Themen, die sie für wichtig erachten. Zu diesen organisieren wir gemeinsame Projekte, sogenannte „Col­lective Actions“.

Könnten Sie dafür bitte konkrete Beispiele geben?
Ein Beispiel ist die Collective Action on Forgotten Foods. Es geht um „vergessene“ Kulturpflanzen, in die nicht investiert wird. Tausende von ihnen wurden traditionell angebaut, denn sie haben bestimmte Vorteile, etwa hohe Nährstoffgehalte oder eine exzellente Anpassung an lokale Ökosysteme (siehe Rabson Kondowe auf www.dandc.eu). Unsere Mitglieder haben ein globales Manifest verfasst, das fordert, den nachhaltigen Anbau dieser Pflanzen durch kleinbäuerliche Betriebe zu intensivieren – entgegen den Interessen der Agrarindustrie, die auf einige wenige Pflanzen wie Mais, Weizen und Reis setzt (zum Anbau von Mais in Sambia siehe Derrick Silimina auf www.dandc.eu). 

Ein weiteres Beispiel betrifft die Digitalisierung. Sie bietet für die Landwirtschaft enormes Potenzial, etwa im Zahlungsverkehr, in der Vermarktung oder bei Wetterdiensten. Wir haben in einer Umfrage herausgefunden, dass sie vor allem Großbetrieben zugutekommt. Deshalb haben wir eine Collective Action initiiert, damit kleinbäuerliche Betriebe mehr als bisher von der Digitalisierung profitieren. Sie sollten etwa besseren Zugang zu regionalen Märkten und Wertschöpfungsketten erhalten. Wenn es uns gelingt, sie zu stärken, reduziert das hoffentlich auch den Beitrag der Landwirtschaft zum Klimawandel. Er liegt momentan bei mindestens 31 Prozent und nimmt weiter zu.

Das liegt auch an der ungesunden und unökologischen Ernährungsweise insbesondere in westlichen Industrieländern, geprägt von viel Fleisch, Zucker und stark verarbeiteten Lebensmitteln. Inwiefern breitet sie sich weiter aus?
Im globalen Norden scheint ein gewisser Wandel im Konsumverhalten stattzufinden, jedenfalls nimmt dort diese Art der Ernährung derzeit nicht mehr zu. Aber in aufstrebenden Volkswirtschaften wie China oder Indien, wo ein großer Teil der Weltbevölkerung lebt, wird der Fleischsektor in den kommenden Jahren wohl weiter wachsen – und damit auch die Nachfrage nach Futtermittel. Entsprechend wird der Anteil der Landwirtschaft an den globalen Treibhausgasemissionen steigen, voraussichtlich um sechs Prozent im kommenden Jahrzehnt. Auch hier verschlechtert sich die Situation also, anstatt sich zu verbessern.

Wie können wir umsteuern?
Indem wir weniger Fleisch konsumieren. Würden sich alle Menschen gesund ernähren, mit mehr Obst und Gemüse, könnte dies die CO2-Emissionen bis 2050 weltweit um 29 Prozent reduzieren.

Muss es aufstrebenden Entwicklungs- und Schwellenländern nicht zynisch vorkommen, wenn gerade westliche Industrieländer ihnen dazu raten, weniger Fleisch zu konsumieren?
Der globale Norden kann der Welt nicht vorschreiben, wie sie konsumieren soll. Er kann aber versuchen, nicht Teil des Problems zu sein, sondern Teil der Lösung. Ohnehin geht es nicht darum, etwas zu verbieten, sondern um gesunde Ernährung. Die gesünderen und nachhaltigeren Lösungen sind ja glücklicherweise genau jene, die auch Armut und Hunger reduzieren. In sie müssen wir investieren, für sie müssen wir werben. Vor allem gilt es, kleinbäuerliche Betriebe dabei zu unterstützen, gesunde Produkte mit hohem Nährwert regional zu produzieren. Dafür müssen sie an Innovation teilhaben.

Eine Quelle der Innovation ist die Agrarforschung. Bekommen wissenschaftliche Institute aus dem globalen Süden die Aufmerksamkeit, die sie verdienen?
Laut unseren Mitgliedern nicht. Es gibt derzeit ein großes, weltweites Konsortium zur Agrarforschung, die Consultive Group on International Agricultural Research (­CGIAR). Das ist ein Verbund von 15 multilateralen Institutionen, der hervorragende Arbeit leistet – aber, wie wir finden, oft nicht mit den Akteuren des globalen Südens und auch nicht immer in deren Interesse. Wir wollen deshalb dafür sorgen, dass unsere Mitglieder stärker beteiligt werden. Beispielsweise sollten Partnerschaftsprinzipien als globaler Standard eingeführt werden. Das heißt: Es sollte keine Forschung über kleinbäuerliche Betriebe aus dem globalen Süden stattfinden, ohne sie aktiv daran zu beteiligen.

Wie kann diese Einbindung funktionieren?
An unseren Collective Actions sind immer kleinbäuerliche Betriebe beteiligt. Im Rahmen der bereits erwähnten Collective Action on Forgotten Foods haben wir einen globalen Standard entwickelt, wie die „vergessenen“ Pflanzen besser genutzt werden können. Nun werden wir diesen Standard umsetzen, etwa in Asien, gemeinsam mit einem regionalen Agrarverband, der Asian Farmers Association (AFA). Bäuerliche Familienbetriebe übernehmen eine Führungsrolle. Wir sorgen dafür, dass die anderen Akteure – wie Forschungsorganisationen, der Privatsektor oder zivilgesellschaftliche Organisationen – dies akzeptieren. Das ist für uns ein absolutes Muss, und das sähen wir auch gerne im Big Business der Agrarforschung. Nur so können wir die Probleme der kleinbäuerlichen Betriebe wirklich sehen und verstehen. Lösungen ergeben sich zumeist aus dem Austausch verschiedener Akteure.

Und Sie helfen bei der Verbreitung guter Ideen?
Wenn wir feststellen, dass bestimmte Lösungsansätze auch für andere Länder oder in anderen Zusammenhängen interessant sind, dann können wir diese im Rahmen unserer Collective Actions skalieren. Uns ist wichtig, dass etwas nicht nur neu ist, sondern unseren Mitgliedern und der Erreichung der SDGs dient. Innovationen in diesem Sinne sind nicht Technologien, die in einem Forschungslabor entwickelt werden, sondern soziale Konzepte oder Prozesse. Der deutsche Soziologe Harald Welzer schreibt: „Die wesentlichen Fortschritte im Zivilisationsprozess basierten auf der Verbesserung der Verhältnisse zwischen den Menschen, und die Technik kam dabei nur dann zur Hilfe, wenn man wusste, wie man sie zu dieser Verbesserung einsetzen konnte.“ Das trifft sehr gut die Arbeit von GFAR: Uns geht es nicht um Innovation als Selbstzweck, sondern um Fortschritt in diesem Sinne. Deshalb planen wir, uns bald in GFAIR umzubenennen – um zum Ausdruck zu bringen, dass Neuerungen fair sein müssen.

Welchen Werten fühlen Sie sich verpflichtet?
Den SDGs, neben dem anfangs erwähnten SDG2 insbesondere auch SDG17, also der Zusammenarbeit beim Erreichen der Ziele. Wie wichtig eine solche Kooperation ist, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Gegenwärtig sehen wir ja im Norden des Schwarzen Meeres, wie destruktiv ein engstirniger Nationalismus sein kann, erst recht, wenn er in Krieg mündet (siehe Jane Escher auf www.dandc.eu). Alle, die sich dafür interessieren, mit Akteuren des globalen Südens zusammenzuarbeiten – egal wo auf der Welt –, können sich direkt an uns wenden. Wir sind ein offenes Forum, eine E-Mail genügt.


Hildegard Lingnau ist Exekutivsekretärin des Global Forum on Agricultural Research and Innovation (GFAR), das bei der FAO (Food and Agriculture Organization of the UN – Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN) in Rom angesiedelt ist. Es wird von der EU finanziert.
hildegard.lingnau@fao.org