Diskriminierung

Entwicklungszusammenarbeit muss inklusiver werden

Menschen mit Behinderungen werden in vielen Lebensbereichen diskriminiert – auch in Entwicklungszusammenarbeit und Nothilfe. Politik und Zivilgesellschaft müssen Inklusion als Querschnittsaufgabe erkennen.
Menschen mit Behinderungen in einer Notunterkunft in Haiti, 2021. picture-alliance/ASSOCIATED PRESS/Joseph Odelyn Menschen mit Behinderungen in einer Notunterkunft in Haiti, 2021.

Mehr als eine Milliarde Menschen weltweit leben mit Behinderungen – laut UN gut 80 Prozent von ihnen in Ländern mit niedrigen Einkommen. Die Sozialforschung spricht hier seit vielen Jahren von einem Kreislauf aus Armut und Behinderung: Wer arm ist, hat häufig schlechten Zugang zu medizinischer Versorgung und leidet dadurch eher an gesundheitlichen Problemen und dauerhaften Beeinträchtigungen. Behinderung ist somit oft eine direkte Folge von Armut. Andersherum haben Menschen mit Behinderung ein höheres Armutsrisiko, etwa weil sie häufig vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden.

Auch sozial sind behinderte Menschen benachteiligt (siehe meinen Beitrag auf www.dandc.eu). Das bestätigt eine Studie der Christoffel-Blindenmission (CBM), einer christlichen Organisation für inklusive Entwicklungszusammenarbeit mit Sitz im hessischen Bensheim. Unser programmatischer Ansatz heißt „community-based inclusive development” (CBID). Die CBM CBID Baseline Study ergab, dass sich von 471 Befragten nur rund 20 Prozent an Aktivitäten ihrer Gemeinschaft gut beteiligen können. Die CBM hatte die Daten 2020 und 2021 in Äthiopien, Honduras, Indien, Kamerun, Pakistan, Ruanda, Simbabwe und Togo erhoben. Gründe für die mangelnde Teilhabe sind etwa Stigmatisierung, Armut, physische Barrieren oder schwer zugängliche Informationen.

Eine Schlüsselrolle spielen fehlende Möglichkeiten, eigenes Geld zu verdienen. Das macht behinderte Menschen nicht nur arm, sondern verstärkt auch ihre Ausgrenzung. Weltweit liegt ihre Beschäftigungsquote deutlich niedriger als bei nichtbehinderten Menschen (Stoevska 2020). Die Gründe dafür sind vielfältig. Viele Arbeitgeber stufen sie als unfähig ein, am Arbeitsleben teilzuhaben, und stellen sie nicht ein. Hinzu kommen physische Hindernisse wie fehlende Barrierefreiheit am Arbeitsplatz oder in öffentlichen Transportmitteln.

Oftmals fehlen behinderten Menschen aber auch wichtige Grundqualifikationen, weil sie schon als Kinder diskriminiert und am Schulbesuch gehindert wurden. Laut UNESCO besuchten 263 Millionen Kinder und Jugendliche weltweit im Jahr 2018 keine Schule. Besonders betroffen sind Kinder mit Behinderungen in Entwicklungsländern. Gerade dort fehlt es an barrierefreien Schulgebäuden, an Büchern in Braille-Schrift sowie an ausgebildeten Lehrkräften.

In Katastrophen benachteiligt

Auch in Projekten der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe erfahren behinderte Menschen Diskriminierung, indem ihre besonderen Bedürfnisse – oft unbewusst – nicht berücksichtigt werden. Bei Naturkatastrophen oder Konflikten erhalten sie teils gar keine Hilfe oder erst zuletzt. Eine gehörlose Frau hat bei einem Tsunami kaum Chancen zu fliehen, wenn nur Sirenen vor der Gefahr warnen. Ein blinder Mann ist nicht in der Lage, eine Notunterkunft zu finden, wenn lediglich Schilder den Weg weisen. Hier muss sich jede Organisation selbst hinterfragen, inwiefern sie genug für behinderte Menschen tut.

Für mehr Inklusion gibt es viele gute Gründe. Neben völkerrechtlichen Verpflichtungen (siehe Kasten) wirkt sich der Ausschluss von Menschen mit Behinderungen etwa negativ auf die Gesamtwirtschaft aus, wie eine Studie von Robert L. Metts für die Weltbank bereits im Jahr 2000 gezeigt hat: Individuelle und nationale Produktivität fallen geringer aus, dem Staat entgehen Steuereinnahmen.

Eine weitere negative Konsequenz: Wenn Kinder mit Behinderungen nicht zur Schule gehen, können sie auch nicht an Gesundheits- und Lebensmittelprogrammen teilhaben. Das macht sie anfälliger für Krankheiten, wirkt sich auf ihre spätere Arbeitsfähigkeit aus und belastet das Gesundheitssystem. Weitere Beispiele dafür, welche Schäden Exklusion anrichtet, hat eine CBM-Publikation aus dem Jahr 2016 gesammelt (Banks und Keogh).

Inklusive Entwicklungsprojekte

All das macht deutlich: Wir können uns Exklusion nicht leisten. Trotzdem ist nur ein Bruchteil der deutschen staatlichen Entwicklungsprojekte inklusiv. Wie aber kann Inklusion auch in Krisenregionen weltweit in der Praxis gelingen?

„Nichts über uns ohne uns“ lautet das Motto von Selbstvertretungsorganisationen. Dementsprechend müssen behinderte Menschen als Akteure eingebunden werden – und zwar schon bei der Konzeptionierung einer Idee. Dann werden neue Schulen, Gesundheitsangebote und kulturelle Angebote nicht oder nicht wesentlich teurer.

In der Entwicklungszusammenarbeit ist dafür ein Paradigmenwechsel nötig. Wer mit möglichst geringem Aufwand möglichst allen helfen möchte, muss behinderte Menschen explizit berücksichtigen. Das schließt die gezielte Unterstützung aller benachteiligten Personengruppen ein. Denn ohne bewusste Berücksichtigung werden sie noch weiter abgehängt.

Notwendig ist ein zweigleisiger Ansatz: Zum einen müssen Menschen mit Behinderungen in allen Entwicklungsprogrammen berücksichtigt werden. Zum anderen braucht es spezielle Programme für mehr Chancengerechtigkeit – um sie so zu fördern, dass sie nicht noch weiter zurückbleiben.

Inklusion als wichtiges Querschnittsthema in allen Programmen zu verankern, ist eine Aufgabe nicht nur für den Staat. Auch zivilgesellschaftliche Akteure sind hier gefordert. Wenn jede Entwicklungsorganisation in ihren Projekten Inklusion mitdenkt, können alle gemeinsam viel für die eine Milliarde Menschen mit Behinderungen weltweit erreichen.


Literatur/Links

CBM, University of Cape Town, 2021: Baseline study: CBM Community Based Inclusive Development (CBID) Initiative.
https://www.cbm.org/fileadmin/user_upload/Baseline_Study__CBID_.pdf

Banks, L. M., Keogh, M., 2016: Inklusion – ein Gewinn für alle. Warum sich inklusive Entwicklungszusammenarbeit lohnt. CBM, Bensheim.
https://www.cbm.de/dam/jcr:2419d980-8c00-49d5-b454-01c3001ba282/inklusion-ein-gewinn-fuer-alle-cbm.pdf

Stoevska, V., (ILO), 2020: International Day of Persons with Disabilities: How disability affects labour market outcomes.
https://ilostat.ilo.org/international-day-of-persons-with-disabilities-how-disability-affects-labour-market-outcomes/


Rainer Brockhaus verantwortet seit 2009 als Vorstand das Ressort Kommunikation und Programme der Christoffel-Blindenmission (CBM).
rainer.brockhaus@cbm.org