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Nordafrika

Die Nation definieren

Ägypten steckt in der Krise. Um seine Macht zu festigen, gibt sich Präsident Abdel Fattah al-Sisi als Retter des Landes. Jede abweichende Meinung entwertet er als anti-national. Nicht jeder Ägypter gehört seinem Begriff nach zur Nation.
Personenkult: Süßigkeiten mit Präsidentengesicht. Tödt/picture-alliance/ZB Personenkult: Süßigkeiten mit Präsidentengesicht.

Al-Sisi macht gern großartige nationalistische Erklärungen. „Ägypten ist die Mutter der Welt und wird so groß sein wie die ganze Welt“, verkündete er 2013, nachdem das Militär Präsident Mohammed Mursi gestürzt hatte. Damals war al-Sisi ein hochrangiger General, Mitglied des Obersten Rates der Streitkräfte (SCAF) und Verteidigungsminister. Im Mai 2014 gewann er die Präsidentschaftswahl. Allerdings war dies keine freie Wahle, da die Kandidaten der wichtigsten Oppositionskräfte nicht antreten durften.

Ägypten ist eine Nation in der Krise. 2011 gingen bei einem Aufstand während des arabischen Frühlings die Streitkräfte gegen ihren Führer Hosni Mubarak vor und setzten der Militärdiktatur ein Ende. Aus freien Präsidentschaftswahlen im Jahr 2012 ging Mohammed Mursi von den Muslimbrüdern als Sieger hervor. Er bekam zwar in der ersten Runde kaum mehr als ein Viertel der Stimmen, doch die übrigen Kandidaten schnitten noch schlechter ab. In der zweiten Runde gewann Mursi mit 51,7 Prozent.

Mursi wurde Staatsoberhaupt, war aber schon bald unbeliebt, weil es ihm um die Macht seiner Partei ging, er sich aber wenig um die gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes kümmerte. Viele Ägypter waren froh über den Putsch, der Mursis Präsidentschaft beendete. Doch leider ist die wirtschaftliche Situation nach wie vor katastrophal. Die Inflation ist hoch, Arbeitsplätze sind knapp, und viele Menschen haben keine angemessene Einkommensmöglichkeit.

In diesem komplexen politischen Szenario ist es interessant, wie verschiedene Akteure den Begriff der „Nation“ verwenden. Ein revolutionärer Slogan von Anfang 2011 war „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“. Er vereinte die Menschen - ob Sunniten, Schiiten oder Christen. Das Gefühl der Einheit erinnerte die Menschen an die antikoloniale Solidarität unter britischer Herrschaft. Mit „Nation“ waren „alle Ägypter“ gemeint.

Die Militärführung passte sich der neuen Situation schnell an. Der SCAF rückte von Mubarak ab, übernahm die Macht und gab sich als „Hüter der Revolution“. Er stützte sich auf Begriffe wie „Festung der Sicherheit“ und „Schutzschilde“. Ein Plakat, auf dem ein Soldat mit einem Baby zu sehen ist, wurde enorm populär. Das Baby symbolisierte die Notwendigkeit nationaler Solidarität.

Dadurch, dass sich der SCAF mit den Aufständischen solidarisierte, verhinderte er, dass es zu Massengewalt kam. Zugleich aber verschaffte er dem Militär, das immer eine etwas unklare Position einnahm, erhebliche Privilegien. Ihre Unterstützer bezeichneten die Generäle als „ehrenhafte Bürger“, während sie die Jugendaktivisten, die den Aufstand anführten, als „Gangster“ verunglimpften. In den Augen des SCAF ist nicht jeder Ägypter ein würdiges Mitglied der Nation.

Da die SCAF-Herrschaft nicht ewig andauern konnte, mussten Wahlen abgehalten werden. 2012 gewann zum Schrecken des Militärs die Muslimbruderschaft. Zwölf Monate lang kontrollierte daraufhin der SCAF die Streitkräfte, während Mursi versuchte, die staatlichen Behörden komplett in die Hand seiner Partei zu bringen.


Mursis Spalterei

Die Muslimbruderschaft basiert auf dem sunnitischen Glauben – und Mursis Haltung spaltete die Gesellschaft. In den Medien war zunehmend von „uns“ gegen „sie“ die Rede. „Wir“, das waren die Muslimbruderschaft und ihre Unterstützer, „sie“ hingegen die Anhänger des alten Regimes, weltliche Revolutionäre, Christen, die etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachten, sowie eine kleine schiitische Minderheit.

Mursi tat alles, um das Bild des „geliebten treuen Herrschers“ abzugeben, der ohne das Geleit seiner Leibwächter zum Morgengebet geht. Er umgab sich mit Geistlichen, die die Medien mit „Träumen“ und „Visionen“ von Mursi und dem Propheten Mohammed fütterten. Auf der letzten großen öffentlichen Veranstaltung, die er vor seinem Sturz im Juni 2013 besuchte, ging es um Solidarität mit den sunnitischen Rebellen in Syrien. Ein strenger sunnitischer Geistlicher behauptete, Schiiten seien „schmutzig“, und forderte einen Dschihad (heiligen Krieg). Der syrische Diktator Baschar al-Assad gehört einer kleinen schiitischen Sekte an.

Statt sich der großen Probleme des Landes wie Armut und Ungleichheit anzunehmen, betrieben die Muslimbrüder Identitätspolitik. Sie hofften dank ihrer feurigen Unterstützer langfristig an der Macht zu bleiben. Bei freien Wahlen stimmte rund ein Viertel der Ägypter für die Bruderschaft. Das zeigte, dass die Idee, Ägypten zu einer Nation für sunnitische Muslime zu machen, einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung ansprach. Die Mehrheit überzeugte der Gedanke jedoch nicht.

Ende Juni 2013 hatten Mursi-Gegner 20 Millionen Unterschriften von Bürgern gesammelt, die den Rücktritt des Präsidenten forderten. Der SCAF stürzte Mursi daraufhin mit der Begründung, „den Wunsch des Volkes“ zu erfüllen.


Heldenverehrung

Heute will al-Sisi als „Held“ gesehen werden, der das Land vor einem Bürgerkrieg, wie er in Syrien oder dem Irak wütet, geschützt hat. Es ist ein regelrechter Persönlichkeitskult entstanden. Das Gesicht des Präsidenten findet sich nicht nur auf Straßenbannern, sondern auch auf T-Shirts, Halsketten und sogar auf Torten. Er setzt alles, was das Militär tut, mit dem Gemeinwohl gleich. Beobachter fühlen sich an den Militärführer Gamal Abdel Nasser erinnert, der Ägypten von 1952 bis 1970 regierte (siehe Kasten).

Zugleich unterscheidet das Regime systematisch die „Nation“ und diejenigen, die in Opposition gehen. Al-Sisi regiert Ägypten noch despotischer und repressiver als Mubarak und verfolgt die Muslimbrüder und ihre Anhänger als „Terroristen“. Glaubt man der Regierungspropaganda, so unterscheiden sich diese nicht von ISIS oder Al Kaida.

Die Repressionen sind hart. Laut Human Rights Watch töteten Sicherheitskräfte am 14. August 2013 mindestens 817 Menschen, als sie die gewaltfreien Protestlager der Muslimbrüder in Kairo angriffen. Und es gab weitere Tote. Viele wurden zum Tode verurteilt oder landeten massenweise hinter Gittern. Die staatliche Unterdrückung treibt einige bisher moderate Islamisten in die Arme von Terrororganisationen und entzieht Demokratie-Befürwortern und zivilgesellschaftlichen Organisationen ihren Spielraum.

Al-Sisi spricht zwar permanent von islamistischen Bedrohungen, achtet aber sorgfältig darauf, nicht gegen die Sunniten allgemein zu wettern. „Wir sind gottesfürchtige Leute“, sagte er im Fernsehen, nachdem er Mursi entmachtet hatte. „Wer glaubt, die besiegen zu können, die gottesfürchtig sind, leidet unter Wahnvorstellungen.“ Und auch hier spielen Träume eine Rolle. So erzählt al-Sisi, der extrem religiöse ehemalige Präsident Anwar el-Sadat habe ihm im Traum gesagt, er werde Präsident.

Al-Sisi hat muslimische Geistliche dazu aufgefordert, seine antiislamistische Kampagne zu unterstützen. Moscheen sollen ihren Aufruf zum Gebet vereinheitlichen und die Sprache verwenden, die auf der Website des Ministeriums für religiöse Stiftungen vorgeschlagen wird. Wie zu Nassers Zeiten soll der Staat den Glauben kontrollieren.

Seit dem Sommer 2013 ist es in Ägypten zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen gekommen – darunter Tötungen, spurloses Verschwinden, Inhaftierung und Folter. Es gibt keine Meinungsfreiheit, und viele der jungen Revolutionäre von 2011 haben sich ins Private zurückgezogen (siehe Basma El-Mahdy in D+C/E+Z e-Paper 2017/01, S. 17). Die Wirtschaftskrise hat sich verschärft und die Forderung nach „Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit“ ist so relevant wie eh und je. Großartige nationalistische Versprechen verbessern die Lage nicht – vor allem nicht, wenn mit „Nation“ nicht wirklich jeder Ägypter gemeint ist.


Ingy Salama ist eine ägyptische Journalistin. Sie dankt Ahmed Abd Rabou von der Universität Kairo, Khalil Al-Anani vom Doha Institut und Hosam El Sokkari, ehemals BBC, für ihre Unterstützung.
ingysalama@hotmail.com

 

 

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