Governance

Neue Akzente

Seit Januar gilt im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ein neuer Kriterienkatalog, um die Entwicklungsorientierung von Partnerregierungen zu bewerten. Er geht über international gebräuchliche Indikatoren für die Qualität von Regierungsführung hinaus.


[ Von Ludgera Klemp ]

In den 1990er Jahren war die ideologische Überlagerung der Entwicklungspolitik durch den Ost-West-Konflikt endgültig zu Ende. Die Bilanz der 1980er Jahre wurde negativ bewertet, sie gelten bis heute als „verlorene Entwicklungsdekade“. In der Kritik war vom Bankrott der früheren Strategien, die auf nachholende Modernisierung und Industrialisierung gesetzt hatten, die Rede. Die Fachwelt erkannte an, dass wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Entwicklungserfolge entscheidend sind. Strukturelle Ursachen von Armut sowie soziale, wirtschaftliche und politische Benachteiligung wurden nicht mehr als gegeben hingenommen.

Deshalb entschied das BMZ seinerzeit, dass Art und Umfang der Hilfe für ein Partnerland sich an solchen Rahmenbedingungen orientieren und auf ihre Verbesserung hinwirken sollten. Betont wurden nun Governance-Defizite wie der Missbrauch politischer Macht und öffentlicher Ressourcen oder auch die Verletzung von Menschenrechten. Förderung und Reform des Staates traten folglich immer stärker in den Vordergrund, das Augenmerk richtete sich zunehmend auf die Rolle von Institutionen und deren Legitimität. Einer der Autoren des Kriterienkatalogs (1991), Klemens van de Sand, formulierte für das BMZ fünf Kriterien, die es fortan zu berücksichtigen galt:
– die Beachtung der Menschenrechte,
– die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozess,
– die Gewährleistung von Rechtssicherheit,
– die Schaffung einer marktfreundlichen Wirtschaftsordnung und
– Entwicklungsorientierung des staatlichen Handelns.
Mit der Paris Declaration on Aid Effectiveness der OECD vom März 2005 erreichte die Governance-Diskussion einen neuen Höhepunkt. In dieser Erklärung verpflichteten sich die Entwicklungsländer zu stärkerer Eigenverantwortung („ownership“); die Geber zu Koordinierung und Harmonisierung untereinander sowie zur Nutzung örtlicher Institutionen und Implementierungsstrukturen („alignment“). Zudem verpflichten sich beide Seiten zur Orientierung an Wirkungen („managing for results“) und gemeinsamer Rechenschaftspflicht („mutual accountability“).
Damit internationale Geber nationale Haushalte von Entwicklungsländern direkt bezuschussen können, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden. Wesentlich sind transparente, rechenschaftspflichtige und leistungsfähige Institutionen. Folglich wurde die Diskussion darüber, wie Governancequalität gemessen und bewertet werden kann, intensiver.

Der aktualisierte Kriterienkatalog des BMZ setzt auf diesem Feld neue Akzente. Er berücksichtigt die jüngste internationale Diskussion über Menschenrechte, Gender, Staatlichkeit, Krisenprävention und Konfliktbearbeitung. Der neue Katalog erfasst fünf Themenkomplexe:
– Die Kategorie „Armutsorientierte und nachhaltige Politikgestaltung“ zielt darauf ab, ob Partner ihre Politik an den Millenniumsentwicklungszielen (MDGs) der UN ausrichten.
– Bei „Achtung, Schutz und Gewährleistung aller Menschenrechte“ geht es darum, dass Staaten sich darum bemühen sollen, Schritt für Schritt alle Menschenrechte für sämtliche Bevölkerungsgruppen durchzusetzen – unabhängig von ethnischer, religiöser, kultureller oder Geschlechterzugehörigkeit. Geprüft werden Ratifizierung und Umsetzung internationaler Abkommen, aber auch, ob Regierungen und Amtsträger sich bei der Bereitstellung von Diensten diskriminierend verhalten.
– „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ erfasst Aspekte der Legitimität von Governance, die rechtsstaatliche Kontrolle der Gewaltenteilung sowie die Reichweite des staatlichen Gewaltmonopols.
– „Leistungsfähigkeit und Transparenz des Staates“ fragt danach, wie der öffentliche Sektor eines Landes die offizielle Regierungspolitik umsetzt. Es geht um die Leistungsfähigkeit der Behörden, aber auch um die Existenz und Stärke von Vetokräften, die sich Reformen entgegenstemmen, sowie um die mögliche Verquickung von Staat und Regierung mit kriminellen oder terroristischen Organisationen. Relevant können zudem externe Risikofaktoren sein, beispielsweise Flüchtlingsströme aus Nachbarländern und Konflikte dort.
– „Kooperatives Verhalten in der Staatengemeinschaft“ prüft das Verhalten der Partner in globalen, regionalen und subregionalen Institutionen und Verhandlungen.


Konkrete Politikrelevanz

Als internes Planungs- und Steuerungsinstrument wird der aktualisierte Kriterienkatalog im Ministerium für alle länderbezogenen Entscheidungen herangezogen – von der Rahmenplanung über die Auswahl von Handlungsstrategien bis hin zur Koordinierung mit anderen Gebern. Der Kriterienkatalog ist eine zentrale Grundlage für die Formulierung von Länderkonzepten, also der konkreten Politik mit Blick auf bestimmte Partner, sowie auch einen differenzierten politischen Dialog.

„Das BMZ versteht die neuen Kriterien nicht als Daumenschrauben, sondern als Versuch, die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern auf eine neue Grundlage zu stellen“, hieß es im ursprünglichen Kriterienkatalog von 1991. Daran hat sich nichts geändert. Auch heute steht bei der Anwendung des Kriterienkatalogs nicht die Frage im Mittelpunkt, wie viel Geld für ein bestimmtes Land bereitgestellt werden soll, sondern wie mit Partnern trotz erkannter Governance-Defizite Kooperation möglich ist.

Entsprechend ist der Kriterienkatalog durchaus ein Faktor, der für die Mittelallokation des BMZ eine Rolle spielt. Er dient jedoch nicht der Konditionierung von Leistungen. Im Mittelpunkt steht nicht der Umfang der ODA (OECD-Sprachgebrauch für „official development assistance“), sondern die Frage, auf welche Weise mit einem Partnerland zusammengearbeitet werden kann und sollte. Es geht um Handlungsstrategien und Instrumente, die an konkrete Situationen angepasst sind und entsprechend optimal wirken können. Auch mit wenig Mitteln können entwicklungsorientierte Transformationsprozesse erfolgreich unterstützt werden. Jedenfalls soll jegliches deutsche Engagement auf gesellschaftlichen und institutionellen Wandel abzielen, um armen und benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu nutzen.


Brüchige Staatlichkeit

Im Licht der Erfahrung der vergangenen Jahre ist klar, dass Staaten, die als fragil und schlecht regiert gelten und obendrein nicht die erwünschte Reformorientierung an den Tag legen, eine besonders wichtige Herausforderung für die Entwicklungspolitik darstellen. Für Länder in Konflikt- und Postkonfliktsituationen oder solche, in denen sich die Governance-Situation massiv verschlechtert, der Staat und seine Institutionen schwach sind oder zerfallen, ist der Kriterienkatalog besonders relevant. Er macht es dem Ministerium möglich, rechtzeitig auf Probleme in einem Land aufmerksam zu werden, sich ein Bild zu verschaffen, das einerseits differenziert und abgestuft auf Einzelfälle eingeht, andererseits aber dennoch auf einer einheitlichen Grundlage beruht.

Im Vergleich zu herkömmlichen, technokratisch ausgerichteten Governance-Analysen geht der Kriterienkatalog des Entwicklungsministeriums über die Bewertung der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Sektors und formaldemokratische Verfahren weit hinaus. So bewertet er die politischen Beteiligungschancen der Bevölkerung auch jenseits von Parlaments- oder Präsidentenwahlen. Außerdem erfasst er die Reichweite und Tiefe des legitimen staatlichen Gewaltmonopols einschließlich seiner Begrenzung durch informelle Mächte und Vetoakteure. Besonderen Wert legt das BMZ auf die Millenniumsentwicklungsziele im Kontext der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte sowie auf Frauenrechte als Prüfstein für die Entwicklungsorientierung von Regierungen.
Besonders betonenswert ist zudem die Kriterienkategorie „Verhalten in der internationalen Staatengemeinschaft“. Diese Kategorie hat für die deutsche Entwicklungspolitik einen hohen Stellenwert, wird aber von den meisten gebräuchlichen Governance-Indizes nicht erfasst, die vor allem auf innenpolitische Verhältnisse abstellen. Angesichts vieler grenzüberschreitender und sogar globaler Problemstellungen reicht das aber nicht aus, um die Entwicklungsorientierung einer Regierung zu beurteilen.

Darüber hinaus bilden die global verfügbaren Indizes aktuelle Entwicklungen kaum ab. Bei jährlichem Erscheinen beziehen sich die Daten bestenfalls auf das Vorjahr. Daher zieht der Kriterienkatalog weitere Quellen heran – etwa politökonomische Kurzanalysen, Krisenindikatoren und Botschaftsberichte. Die solide, aktuelle Grundlage und die qualitative Gesamtbewertung machen den Kriterienkatalog zu einem wichtigen Planungs- und Steuerungsinstrument des Bundesentwicklungsministeriums.