Entwicklung und
Zusammenarbeit

Elasticsearch Mini

Elasticsearch Mini

Jüdische Stimmen

Israel verdient Solidarität, Netanjahu nicht

Hamas-Terrorismus ist grausames Unrecht. Die islamistische Organisation ist keine Befreiungsbewegung, sondern opfert zehntausendfach palästinensisches Leben, nachdem sie Israelis ermordete und entführte. Prominente jüdische Stimmen äußern jedoch auch deutliche Kritik an Premierminister Benjamin Netanjahu. Sie verdienen Gehör in ihrem Einsatz für universelle Prinzipien wie Frieden, Pluralismus und Rechtsstaat.
Staatsbesuch des US-Präsidenten im Oktober: Benjamin Netanjahu (links) hat die Zweistaatenlösung, auf der Joe Biden besteht, immer abgelehnt. picture-alliance/ASSOCIATED PRESS/Evan Vucci Staatsbesuch des US-Präsidenten im Oktober: Benjamin Netanjahu (links) hat die Zweistaatenlösung, auf der Joe Biden besteht, immer abgelehnt.

Jüdinnen und Juden streiten schon lange über Netanjahu. In den vergangenen Jahren hatten seine verschiedenen Regierungen nur äußerst knappe Parlamentsmehrheiten. Ständige Neuwahlen änderten das nicht.

Der britische Journalist Jonathan Freedland gehört zu den Netanjahu-­Kritikern. Sein Kommentar im Guardian (17. November 2023) stellte klar, dass die Hamas nicht für Palästinenser*innen kämpft. „Ihr ist egal, ob ihre Leute sterben.“ Auch habe die Hamas Geld statt für lebenswichtige Dienst­leistungen im Gazastreifen für den Bau ihrer ausgedehnten Tunnel verwendet.

Danach stellt er klar, dass westliche Regierungsverantwortliche das Wesen der „rechtesten Regierung“ in Israels Geschichte nicht richtig verstünden: „Zu ihr gehören Minister, die davon fantasieren, Gaza mit einer Atombombe flachzumachen oder mit jüdischen Siedlungen zu bevöl­kern.“

Freedlands Schlussfolgerung war: „Washington, Brüssel und London unterstützen derzeit Israel, weil Frieden ohne die Beseitigung der Hamas nicht möglich ist. Was ihnen viel weniger klar ist, ist, dass Frieden auch mit Netanjahu und seinen Handlangern nicht erreichbar ist.“ Netanjahu habe kein Interesse an einer Zweistaatenlösung, für die westliche Regierungen sich aussprechen.

Schwindender Rückhalt

Sicherlich teilen viele Jüdinnen und Juden Freedlands Sicht nicht unbedingt. Bemer­kenswert ist dennoch, dass Netanjahus Rückhalt in Israel schwindet. Dort unterstützen ihn laut Meinungsumfragen nur noch 20 Prozent, wobei die meisten Menschen die Hamas eliminiert sehen wollen.

Tatsächlich ist Netanjahu ein typi­scher Rechtspopulist, dessen Propaganda seine Nation als eine homogene Gruppe definiert, die sein Weltbild teilt. Die ­Washington-Post-Kolumnistin Jennifer Rubin erinnert er an Donald Trump (30. Oktober 2023): „Diese Männer behaupten ständig, nur sie sprächen für ihr Land und nur sie könnten es vor Schaden bewahren. Sie ent­menschlichen und dämonisieren jegliche Opposition und zeigen keinerlei Empathie. Wenn ihre Inkompetenz zu vermeidbaren Todesfällen führt (etwa durch Hamas-Terror oder eine Pandemie), geben sie anderen die Schuld.“

Aus Rubins Sicht passte ins Bild, dass Netanjahu so tat, als hätten nur Versäum­nisse von Militär und Geheimdienst das ent­setzliche Pogrom auf israelischem Boden möglich gemacht. Dass ihm seine Karriere über alles geht, sei längst bekannt. Die Historikerin Ruth Ben-Ghiat habe ihr gesagt: „Netanjahu zeigt mit seiner Selbsterhaltung typische Autokraten-Züge. Er wollte die Justizreform ohne Rücksicht auf die natio­nale Sicherheit.“

Massenproteste zum Schutz des Obersten Gerichtshofs

Tatsächlich zielte Netanjahus Politik vor den monströsen Hamas-Anschlägen mit minimaler Parlamentsmehrheit auf die Entmachtung des Obersten Gerichts ab. Schon im Frühjahr warnte Noah Yuval ­Harari im Guardian (7. März 2023): „Werden diese Gesetze verabschiedet, kann die Regierung unsere Freiheit vollends zerstören. 61 Knesset-Mitglieder (das israelische Parlament hat 120 Mitglieder, E+Z/D+C) könnten nach Belieben rassistisches, oppressives und antidemokratisches Recht erlassen.“ Trotz langanhaltender Massenproteste, zu denen auch die Dienstverweigerung vieler Reservisten gehörte, suchte Netanjahu keiner­lei Kompromiss. Relevant ist selbst­verständlich auch, dass ihm nach Ende seiner Amtsimmunität Hafturteile wegen Korruption drohen.

Andererseits bemüht er sich schon lange, Andersdenkende zu diskreditieren und zum Schweigen zu bringen. Die Roman­autorin und Journalistin Sigal Samuel schrieb auf vox.com (1. November 2023): „Eine Strategie ist, jegliche Kritik an Israel für antisemitisch zu erklären. Viele jüdische Menschen sehen das anders, wohl wissend, dass antijüdischer Hass existiert. Wir sehen ihn heute ja anwachsen. Es hilft aber nicht, mit ihm alles zu rechtfertigen, was Israel der palästinensischen Bevölkerung antut.“

Michelle Goldberg stieß in der New York Times in dasselbe Horn (20. November 2023): „Ich sage seit Langem, dass Anti­zionis­mus und Antisemitismus nicht dasselbe sind.“ Beide seien aber miteinan­der verwoben, wie die internationale Explosion antijüdischer Gewalt im Zuge des Gaza-Kriegs zeige: „Abscheu vor dem jüdischen Staat wird schnell zur Abscheu vor allen Jüdinnen und Juden.“

Weltweit werden leider in der Tat Angehörige des Judentums für israelisches Staatshandeln verantwortlich gemacht, egal wie sie zu Israels Regierung stehen oder ob sie überhaupt die israelische Staatsbürgerschaft haben. Während Netanjahu beansprucht, für sie alle zu sprechen, verteidigt er sie jedoch nicht konsequent gegen Antisemitismus. Das hat Guardian-­Journalist Freedland im britischen Jewish Chronicle (28. September 2023) klargestellt. Er warf dabei dem Premierminister unter anderem vor, dem Milliardär Elon Musk einen Höflichkeitsbesuch abgestattet zu haben, obwohl dieser sich aggressiv gegen die amerikanische zivilgesellschaftliche Organisation Anti-Defamation League (ADL) gewendet hatte.

Er nannte Beispiele, wie sich Netanjahu mit antisemitischen Kräften im Ausland gut stellen will. Er erwähnte zum Beispiel rechtspopulistische Parteien in „Rumänien, Schweden, Finnland und Deutschland“, die für Holocaustleugnung bekannt seien. Der Kommentator schrieb über Netanjahu: „Er ist bereit, ihre Hände zu schütteln, solange sie Lippenbekenntnisse gegen den Antisemitismus ablegen, selbst wenn das Holocaustleugnung nicht ausschließt. Er gibt ihnen Legitimation durch israeli­sche Politik. Im Gegenzug unterstützen diese Parteien israelische Siedlungen im West­jordanland.“

Wachsende Spannungen

Tatsächlich sorgen israelische Siedlungen dort seit Langem für wachsende Spannungen. In der palästinensischen Bevölkerung wächst die Angst vor permanenter Vertreibung. Wie die Vox-Autorin Samuel in einem weiteren Artikel (27. Oktober 2023) ausführte, hat diese Angst drei Hauptursachen: „Erstens ist tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, dass Hunderttausende im ersten arabisch-israelischen Krieg 1948 vertrieben wurden und dass es seither immer wieder Vertreibung gab.“ Zweitens hätte die Verdrängungsrhetorik rech­ter israelischer Kreise in den vergangenen Monaten zugenommen. Drittens seien manche Forderungen aus dem israelischen Militärestablishment seit dem 7. Oktober problematisch. Dazu gehörten die Forderungen, „den Gazastreifen zu verkleinern, das Leben dort für die palästinensische Bevölkerung unmöglich zu machen und ei­nen eigenen Staat dauerhaft auszuschließen“.

Auch US-Senator Bernie Sanders äußerte sich zur Siedlungspolitik. Im ­Guardian (2. November 2023) schrieb er: „Israelische Siedlungen sind in diesem Jahr im West­jordanland schneller gewachsen als je zuvor. 700 000 Israelis leben nun in einem Gebiet, das aus Sicht von UN und USA besetztes Land ist. Dennoch genehmigte Israels Regierung den Bau tausender neuer Häuser und stellte dafür Grund und Boden bereit, während palästinensische Heime und Schulen abgerissen wurden und die Bewegungsfreiheit der betroffenen Menschen weiter eingeschränkt wurde.“

Sanders merkte an, Jurist*innen sprächen von „illegaler Annexion“, und hielt fest, die Gewalt eskaliere weiterhin: „2023 wurden vor dem 7. Oktober 179 palästinensische Leben ausgelöscht, was das Jahr zum blutigsten seit zwei Jahrzehnten machte. Nach dem 7. Oktober wurden weitere 121 palästinensische Menschen getötet.“ Daran hätten sich Menschen aus den Siedlungen beteiligt. Wegen dieser Spannungen seien zudem israelische Truppen von der Gaza-Grenze verlegt worden, was der Hamas ihre Gewaltorgie erleichtert habe.

In der New York Times beschrieb der Journalist Peter Beinart die Situation der palästinensischen Bevölkerung des Westjordanlands (14. Oktober 2023) so: „Seit über einem halben Jahrhundert leben sie ohne Rechtssicherheit, Bewegungsfreiheit, Staatsbürgerschaft und Wahlrecht. Schutz­los gegenüber der israelischen Regierung, in der einige Kabinettsmitglieder offen für ethnische Säuberung eintreten, werden manche aus ihren Heimen vertrieben.“ 

Apartheid-Vorwürfe

Aus solchen Gründen werfen Human Rights Watch und Amnesty International Israel seit einiger Zeit Apartheid vor. Der Rechtsbegriff besagt, dass zum Zwecke der Unterdrückung für unterschiedliche Be­völkerungsgruppen im selben Territorium unterschiedliches Recht gilt. Das ist auch aus Sicht der zivilgesellschaftlichen israeli­schen Organisation B’Tselem der Fall. Sie erklärte in einem Positionspapier vom Oktober 2022: „Rund 15 Millionen Menschen – zur Hälfte jüdisch, zur Hälfte palästinensisch – leben unter einer Regierung zwi­schen dem Jordan und dem Mittelmeer.“ B’Tselem bezeichnete die Vorstellung als falsch, ein demokratischer Staat sei von nur befristet besetztem Territorium unterscheid­bar. „Wir alle erleben in diesem Gebiet eine binatio­nale Realität unter einem einzigen Regime. Die Hälfte der Bevölkerung – nämlich die palästinensische – ist entweder ganz oder teilweise politisch ausgeschlossen.“

Zur Wahrheit gehört auch, dass Netanjahu schon lange die palästinensische Autonomiebehörde gegen die Hamas ausspielt, wobei er Erstere möglichst schwächt und Letztere stärkt. Die New Yorker Zeitschrift Jewish Currents (10. Oktober 2023) berichtete: „Im März 2019 sagte Netanjahu der Likud-Fraktion in der Knesset, wer einen palästinensischen Staat verhindern wolle, müsse sowohl die Hamas als auch Geldflüsse an sie befürworten: ,Das ist Teil unserer Strategie – die Palästinenser im Gazastreifen von den Palästinensern in der Westbank zu isolieren.‘“

Der New-York-Times-Kolumnist Ezra Klein nutzt seinen Podcast seit Wochen, um die Lage aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren. In der Folge vom 17. November erläuterte er, dass unterschiedliche Gene­rationen in Amerika Israel unterschiedlich bewerten. Alte Menschen, wie US-Präsident Joe Biden, sähen Israel weiterhin als schwaches und verwundbares Gemeinwesen, gegründet von Menschen, die dem Holocaust entkommen waren. Das entspreche aber nicht der Wahrnehmung jüngerer Menschen wie seiner Generation, sagte Klein: „Wir kennen nur ein starkes Israel, das stärkste Land der Region, atomar bewaffnet und von Amerika militärisch und politisch felsenfest unterstützt.“

Viele junge Leute – auch jüdischen Glaubens – störe, dass Israel ständig weiter nach rechts rücke. „Extremisten, die einst am Rande der Gesellschaft standen, gehören nun zu Koalition und Kabinett. Der Siedlungsaktivismus im Westjordanland ist wild geworden und annektiert de facto mehr und mehr Land, manchmal mit Gewalt.“

Klein verbirgt seinen Ärger über weltweit wachsende antijüdische Agitation und Gewalt nicht. Ihn empört nicht nur das hinterhältige Blutvergießen der Hamas, sondern auch, dass manche sich darüber freuen und dem gesamten Judentum Komplizenschaft mit Netanjahu vorwerfen. Dennoch betont er, Pro-Palästina-Demonstrationen seien nicht einfach Ausdruck von Antisemitismus, denn viele Teilnehmende treibe die hohe Zahl ziviler Todesopfer im Gazastreifen um.

An Frieden nicht interessiert

Kurz zusammengefasst skizzieren die hier zitierten Quellen Netanjahus Politik als innenpolitisch polarisierend und außenpolitisch expansiv. Er hat kein echtes Interesse an Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Frieden mit der palästinensischen Be­völkerung gezeigt. Deshalb sagte UN-­Generalsekretär António Guterres (die einzige nichtjüdische Stimme in diesem Beitrag), die Hamas-Angriffe hätten nicht in einem Vakuum stattgefunden. Daraufhin forderte Israels Regierung seinen Rücktritt.

In diesem komplizierten Szenario ent­hält die jüdische Netanjahu-Kritik jedoch Botschaften, die westliche Regierungen ernst nehmen sollten. David Levy, ein ehemaliger israelischer Diplomat, forderte in der New York Times (8. November 2023) einen Waffenstillstand: „Es wurde schon oft gesagt, dass Israel Freunde und Unterstützer braucht, die es kurz vor dem Ab­grund zurückhalten. Amerikas Bereitschaft, Straflosigkeit für Israel zu garantieren, ohne ernsthaft auf palästinensisches Leid einzugehen, schadet seit Langem beiden Seiten.“

Auch Senator Sanders sprach sich in seinem Guardian-Kommentar für einen Waffenstillstand aus: „Israel hat wie jedes andere Land das Recht, sich zu verteidigen und die Angreifer von Hamas zu zerstören. Es hat aber nicht das Recht, tausendfach unschuldige Männer, Frauen und ­Kinder zu töten. Es hat auch nicht das Recht, Millionen von Leben – die Hälfte davon ­Kinder – durch Vorenthaltung von Wasser, Lebensmitteln, Treibstoff und Elektrizität zu gefährden.“

Thomas Friedman stellte in seiner Kolumne in der New York Times (25. Oktober 2023) fest, dass Netanjahus Glaubwürdigkeit wackelt: „Es ist strategisch und mo­ralisch inkohärent, wenn Israel seine besten Verbündeten bittet, es bei der Suche nach Gerechtigkeit in Gaza zu unterstützen, aber wegzuschauen, während es im Westjordanland ein Sidlungskönigreich mit ausdrücklicher Annexionsabsicht baut.“

In einem späteren Text (14. November 2023) forderte Friedman das Weiße Haus zum Umdenken auf. Es reiche nicht, die Zweistaatenlösung zu fordern, die Netanjahu immer nach Kräften verhindert habe. Die US-Regierung müsse vorschlagen, wie sie zu erreichen sei. „Die Zeit ist gekommen, in der Präsident Biden allen die Wahrheit sagen muss – Netanjahu, der palästinensischen Bevölkerung und allen, die sie unterstützen, aber auch Israel und proisraelischen Kräften.“ Der Präsident müsse klarstellen, dass „Amerika nicht Netanjahus nützlicher Idiot“ sein werde.

Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z/D+C. In Klammern ist angegeben, wann die Beiträge auf den jeweiligen Websites erschienen.
euz.editor@dandc.eu

Governance

Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist gute Regierungsführung nötig – von der lokalen bis zur globalen Ebene.