Naher Osten
Jüdische Stimmen zur aktuellen Krise in Israel
Meine Botschaft an Netanyahu: Stoppen Sie Ihren Putsch, oder wir stoppen das Land
In der Geschichte wimmelt es von Diktaturen, die zunächst legal etabliert wurden. Es ist der älteste Trick der Welt: Erst nutzt man das Gesetz, um Macht zu erlangen, dann nutzt man seine Macht, um das Gesetz zu beugen. Was die Regierung derzeit vorbereitet, hat einen simplen Zweck (dazu braucht man keinen Doktortitel in Jura): Werden diese Gesetze verabschiedet, kann die Regierung unsere Freiheit vollends zerstören.
61 Knesset-Mitglieder (das israelische Parlament hat 120 Mitglieder, D+C/E+Z) könnten nach Belieben rassistisches, oppressives und antidemokratisches Recht erlassen; 61 Knesset-Mitglieder könnten das Wahlsystem so ändern, dass wir die Regierung nicht mehr wechseln können. Fragen wir die Putsch-Anführer, was ihre Macht künftig kontrollieren und die grundlegenden Menschenrechte schützen wird, sagen sie nur: „Traut uns.“
Premierminister Netanyahu, Justizminister Levin, MK (Mitglied der Knesset, D+C/E+Z) Rothman, Vorsitzender des Verfassungsausschusses, wir trauen Ihnen nicht! (…) Wir trauen Ihnen nicht, weil wir wissen, was Sie wollen: grenzenlose Macht. Sie wollen uns zum Schweigen bringen und uns vorschreiben, wie wir leben, was wir essen, was wir anziehen, was wir denken und sogar, wen wir lieben sollen. Yuval Noah Harari, The Guardian
Stellen Sie sich ein auf das Ende Israels, wie wir es kennen
Israel hat keine zweite Kammer und keine schriftliche Verfassung. Wenn eine israelische Regierung, die per definitionem die Knesset dominiert, etwas vorhat, kann nur der Oberste Gerichtshof sie stoppen. Eben diesen will Bibi unterhöhlen.
Netanyahu oder ein künftiger Premier würde Israel dann mit uneingeschränkter Macht regieren. Es wäre eine Mehrheitstyrannei, die sich aus 61 Sitzen der 120-köpfigen Knesset ergäbe. (...) Manchmal wird die Minderheit offensichtlich sein – nämlich die arabische Bevölkerung. Manchmal werden es jene sein, die in einer Streitfrage unterliegen. Irgendwann zählen alle in einer Demokratie mal zur Minderheit. (…)
Jahrzehntelang warnten die, welche die Besatzung seit 1967 ablehnen, diese werde die Besatzungsmacht selbst zersetzen, denn Israel könne die Demokratie nicht auf einer Seite der Grünen Linie missachten und auf der anderen Seite deren dauerhaften Bestand erwarten. Irgendwann musste das Übel diese schwindende Grenze überwinden. Nun ist es so weit. Jonathan Freedland, The JC (Jewish Chronicle, Sitz in London)
Israel verärgert seine engsten Verbündeten
Dem Angriff Netanyahus auf die Unabhängigkeit der israelischen Justiz folgten Massenproteste, Warnungen aus der Wirtschaft und mahnende Worte von Bidens Regierung sowie israelfreundlichen Mitgliedern des US-Kongresses. So viel Opposition ist ungewöhnlich – aber verglichen mit der wütenden Reaktion auf die Mobgewalt im Westjordanland war sie mild.
Die Financial Times schrieb: „Nachdem ein palästinensischer Bewaffneter zwei Israelis im besetzten Westjordanland getötet hatte, bestärkte ein Amoklauf israelischer Siedler die Sorge, dass die Gewalt in dem Gebiet außer Kontrolle gerät.“
Netanyahu richtete sich seltsam wohlwollend an die Randalierenden – ähnlich wie Präsident Trump an die Aufständischen am 6. Januar 2021. Netanyahu twitterte: „Ich bitte – auch wenn das Blut kocht, – das Gesetz nicht in die eigenen Hände zu nehmen.“ Bislang wurde niemand im Zuge der Strafverfolgung festgenommen. (...)
Die Botschaft des geschäftsführenden Vizepräsidenten der Orthodoxen Union – einem der treuesten Verteidiger Israels – war aufrüttelnd. Rabbi Moshe Hauer schrieb: „Wie konnte es so weit kommen, dass junge jüdische Männer Häuser und Autos plündern und anzünden?“ Er äußerte Mitgefühl für den „Schmerz“ wegen des Mordes an zwei Israelis, bekräftigte aber, dass „wir dies weder verstehen noch hinnehmen“. Netanyahu deutlich rügend, fuhr Hauer fort: „Ein Dorf anzugreifen, kann nicht als ‚das Gesetz in die eigenen Hände nehmen‘ bezeichnet werden. Das ist nicht das Gesetz; das ist undisziplinierte und willkürliche Wut.“
Wie es so weit kommen konnte? So etwas passiert, wenn eine rechte Regierung konsistent den radikalsten Elementen ihres Landes Sympathie signalisiert. Jennifer Rubin, The Washington Post
In einem jüdischen Staat lässt sich Demokratie nicht retten
Für die meisten von Israel kontrollierten palästinensischen Menschen – im Westjordanland und in Gaza – ist Israel keine Demokratie. Es ist keine Demokratie, weil sie nicht die Regierung wählen können, die ihr Leben beherrscht. (...) Sie können sich bei der Palästinensischen Autonomiebehörde beschweren. Aber diese ist ein Subunternehmen, kein Staat. Wie alle anderen Palästinenser auch, kann selbst das PA-Personal das Westjordanland nur mit israelischer Erlaubnis verlassen. Auch in Gaza bestimmt Israel – mit ägyptischer Hilfe –, welche Personen und Waren herein- und hinaus dürfen. Und die Bevölkerung, die laut Human Rights Watch in einem „Freiluftgefängnis“ lebt, kann die israelischen Beamten, die die Schlüssel in der Hand halten, nicht abwählen.
2009 witzelte das palästinensische Knessetmitglied Ahmad Tibi, Israel sei wirklich „jüdisch und demokratisch: demokratisch für jüdische Menschen und jüdisch gegenüber arabischen“. Aus liberal-zionistischer Sicht war das ungehobelt, denn Tibi gehört seit fast 25 Jahren dem israelischen Parlament an. Er weiß aber, dass die Struktur des jüdischen Staats palästinensischen Menschen systematisch die rechtliche Gleichstellung verweigert, ob sie nun die Staatsbürgerschaft haben oder nicht. (...)
Das erklärt, warum mehr als 20 Prozent des israelischen Staatsvolks palästinensisch sind, deren Gemeinden aber laut einem Bericht diverser palästinensischer und israelischer Menschenrechtsgruppen von 2017 weniger als drei Prozent der Landesfläche umfassen. 2003 stellte eine Kommission der Regierung fest, dass „viele arabische Städte und Dörfer von Land umgeben sind, das für Zwecke wie Sicherheitszonen, jüdische Regionalräte, Nationalparks und Naturschutzgebiete oder Autobahnen ausgewiesen ist, was Expansionsmöglichkeiten begrenzt oder erschwert.“ Da sie keine Genehmigung erhalten können, bauen viele palästinensische Menschen illegal Häuser – die die Regierung dann abreißt. (...)
Manche jüdische Menschen mögen fürchten, dass, wer Netanyahu kritisiert und sich für eine echte liberale Demokratie einsetzt, sich ins Abseits stellt und dem Vorwurf des Antizionismus aussetzt. Wer genau hinschaut, erkennt, dass das Gegenteil stimmt. Israels Demokratiebewegung wird, wenn sie die palästinensische Bevölkerung als vollwertigen Partner einbezieht, ein enormes Reservoir an neuen Verbündeten finden und eine klarere moralische Stimme herausbilden. Eine auf ethnischer Dominanz basierende Bewegung kann den Rechtsstaat nicht erfolgreich verteidigen. Das kann nur eine Bewegung für Gleichberechtigung. Peter Beinart, The New York Times
Amerikanische Juden, Ihr müsst Euch in Israel für eine Seite entscheiden
Die Interessen von amerikanischem und israelischem Judentum differieren schon seit Jahren, aber das wurde immer überspielt. Bis Anfang der 2000er Jahre schienen die Interessen übereinzustimmen – als Israel sich darauf konzentrierte, jüdische Zuwanderung aus Russland und Äthiopien mit jüdischer Unterstützung aus Amerika aufzunehmen, den Osloer Friedensprozess mit Hilfe amerikanischer Präsidenten voranzutreiben und Start-ups mit Hilfe amerikanischer Investoren zu gründen. (...)
Unter Netanyahus Regierungen tat Israel dann alles, um den Friedensprozess zu umgehen und den palästinensischen Spitzenpolitiker Mahmoud Abbas zu dämonisieren. Dabei wusste Netanyahu, dass Abbas’ Palästinensische Autonomiebehörde jahrelang wichtige Sicherheitszusammenarbeit mit Israel leistete.
Netanyahu und sein Team lehnten zudem liberale jüdische Stimmen aus Amerika ab und betrachteten sie als aussterbende Spezies, die sich durch Mischehen allmählich nichtig machte. Netanyahu und seine Verbündeten konzentrierten sich stattdessen darauf, in der Republikanischen Partei und ihrer evangelikalen Basis Unterstützung für Israel zu mobilisieren.
Derweil gaben sich die Spitzenleute der großen jüdischen Institutionen in Amerika alle Mühe, die von Netanyahu gezeigte implizite Verachtung zu ignorieren. Ihre Wischiwaschi-Erklärungen bekräftigten die Notwendigkeit, Israels demokratischen Prozess zu respektieren und Israels Regierung „nach ihrem Handeln“ zu beurteilen – als wäre nicht zu verurteilen, dass Netanyahu zwei Ex-Sträflinge sowie nationalistische, messianische Eiferer auf wichtige Kabinettsposten gesetzt hat.
Da Netanyahus jüngste Regierung weiter daran arbeitet, die Unabhängigkeit der israelischen Justiz zu untergraben und die israelische Gesellschaft zu spalten, bleibt den Führungspersönlichkeiten des amerikanischen Judentums nichts übrig, als sich für eine Seite zu entscheiden. Thomas Friedman, The New York Times