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Israel/Palästina

Noch ein fürchterlicher Krieg

Der Krieg zwischen Hamas und Israel kostete laut Medienberichten bis zum 25. Oktober über 5800 Palästinenser*innen und über 1300 Israelis das Leben. Ausgelöst wurde er durch Terrorattacken auf Israel am 7. Oktober. Internationale Medien mussten ein unübersichtliches Szenario schnell einordnen.
Erst wurden Raketen aus dem Gazastreifen abgefeuert, dann reagierte Israel ebenfalls mit Raketenbeschuss. picture alliance / AA / Ashraf Amra Erst wurden Raketen aus dem Gazastreifen abgefeuert, dann reagierte Israel ebenfalls mit Raketenbeschuss.

Nüchterne Stimmen erkannten Israels Recht auf Selbstverteidigung an, aber riefen zur Zurückhaltung bei Militäraktionen auf.  Einige jüdische Autor*innen warfen Premierminister Benjamin Netanjahu Versagen vor.  Westliche Regierungen erklärten unverbrüchliche Solidarität dem Opfer eines „unprovozierten“ Angriffs, aber muslimische Medienschaffende sahen das tendenziell anders.  Manche Kommentare unterschieden die Hamas nicht von „den“ Palästinenser*innen.  Sie übersahen die tiefe Feindschaft zwischen der Hamas und der Palästinensischen Autonomiebehörde ebenso wie die Tatsache, dass der Terrorismus das Leid der Menschen verstärkt, die die islamistische Gruppierung zu vertreten vorgibt. Leider gab es eine absurde und feindselige Allianz von Hamas mit Netanjahu, bei der beide Seiten alles taten, um die friedliche Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern, die vor 30 Jahren im Osloer Friedensabkommen verhandelt wurde.

Kommentare internationaler Medien, zusammengestellt von E+Z/D+C.

 

LEITARTIKEL DER REDAKTION, THE HINDU, CHENNAI, 10. OKTOBER

Der Angriff wirft moralische und pragmatische Fragen auf. Die unterschiedslose Hamas-Gewalt gegen Israels Zivilbevölkerung ist abstoßend und wird der palästinensischen Sache in keiner Weise dienen. Im Gegenteil stehen nun noch mehr Palästinenserleben auf dem Spiel, denn Israel bombardiert ebenfalls ohne Rücksicht auf zivile Verluste die belagerte Enklave. Schon vorher glichen die palästinensischen Gebiete unter dem Joch der längsten Besatzung in der jüngeren Geschichte einem rauchenden Vulkan. Es gibt keinen Friedensprozess. Israel baute immer weiter Siedlungen in der Westbank, errichtete Sicherheitszäune und Kontrollpunkte, beschränkte die palästinensische Bewegungsfreiheit und zögerte nie mit der Anwendung von Gewalt oder Kollektivstrafen, um palästinensische Organisationen in Schach zu halten. (…) Wenn Israel und andere regionale und internationale Akteure dauerhaft Frieden und Stabilität in der Region wollen, müssen sie sich darauf konzentrieren, eine Lösung der Palästinafrage zu finden.

https://www.thehindu.com/opinion/editorial/original-sin-on-the-attack-on-israel-and-the-occupation-of-palestine/article67400015.ece

 

KENNETH ROTH, THE GUARDIAN, LONDON, 11. OKTOBER

Der widerliche Angriff der Hamas auf Israels Zivilbevölkerung wird weithin als der 11. September dieses Landes bezeichnet. Das ist für die mutwillige Grausamkeit ein passendes Bild. Die Analogie enthält allerdings auch eine Warnung. Die US-Regierung verlor das Mitleid der Welt und ihr moralisches Ansehen, als ihre Reaktion auf den 11. September zu einem fehlgeleiteten Krieg im Irak, systemischer Folter und endloser Haft in Guantanamo ohne Gerichtsverfahren führte. Israels Regierung sollte sich hüten, solch einem Pfad der Schande zu folgen. Tatsächlich kann eine übertrieben aggressive Antwort genau das sein, was die Hamas provozieren wollte. (…) Ein Grundprinzip des internationalen humanitären Rechts ist, dass Kriegsverbrechen einer Seite nicht Kriegsverbrechen der anderen Seite rechtfertigen.

https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/oct/11/israel-hamas-attack-gaza-9-11-cautionary-tale

 

YUVAL NOAH HARARI, WASHINGTON POST, 11. OKTOBER

Wir sind mit Geschichten von schutzlosen Jüdinnen und Juden aufgewachsen, denen niemand zu Hilfe kam, als sie sich in Schränken und Kellern vor Nazis versteckten. Der Staat Israel wurde gegründet, damit derlei nie wieder passieren könnte. Wie ist es also dazu gekommen? Warum hat der Staat Israel im Ernstfall versagt? Einerseits zahlen Israelis nun den Preis für Jahre des Hochmuts, in denen unsere Regierungen und viele gewöhnliche Israelis das Gefühl hatten, wir seien so viel stärker als die palästinensische Bevölkerung, dass wir diese schlicht ignorieren könnten. Es gibt viel daran zu kritisieren, wie Israel die Friedensbemühungen eingestellt und jahrzehntelang die palästinensischen Gebiete mit Millionen von Menschen besetzt gehalten hat. Das rechtfertigt die Gräueltaten der Hamas aber nicht, die ohnehin nie die Möglichkeit eines Friedensvertrags mit Israel billigte und alles in ihrer Macht Stehende tat, um den Osloer Friedensprozess zu sabotieren. (…) Die Geschichte ist kein moralisches Lehrstück. Die wahre Ursache für Israels Dysfunktionalität ist nicht eine angebliche Unmoral, sondern Populismus. Viele Jahre lang wurde Israel von dem populistischen Potentaten Benjamin Netanjahu regiert. Er ist ein PR-Genie, aber ein inkompetenter Premierminister. Er hat mehrfach seinen persönlichen Interessen Vorrang vor den Interessen des Landes gegeben und seine Karriere darauf aufgebaut, dass er das Land gespalten hat. Er hat Personen in Schlüsselpositionen eher wegen ihrer Loyalität zu ihm als wegen ihrer Kompetenz berufen. Er rechnete sich selbst jeden Erfolg an, übernahm aber für Fehlschläge nie Verantwortung. Und er schien wenig Wert darauf zu legen, die Wahrheit zu sagen oder zu hören.

https://www.washingtonpost.com/opinions/2023/10/11/netanyahu-populism-weakened-israeli-security/

 

ERKLÄRSTÜCK, JEWISH CURRENTS, NEW YORK, 10. OKTOBER

Seit Israels Abzug aus Gaza 2006 agiert die Hamas dort als Regierung. Konfrontiert ist sie oft mit der Unzufriedenheit der Bevölkerung wegen ihrer autoritären Herrschaft und ihres Unvermögens, die verbreitete Armut unter der israelischen Blockade zu lindern. In diesen Jahren hat die Hamas manchmal Raketen abgeschossen, um Zugeständnisse von Israel zu erreichen, die beispielsweise die Grenzverwaltung, Arbeitsgenehmigungen oder Bedingungen der Blockade betrafen. Darauf hat Israel oft seinerseits mit Bombenangriffen reagiert, was israelische Spitzenleute als „Rasenmähen“ bezeichneten. (…) Trotz wiederholter Gefechte mit Hamas – und der häufigen Beschreibung von Hamas als gewalttätiger Bedrohung, welche den israelischen Sicherheitsapparat und aggressive militärische Reaktionen rechtfertige – haben israelische Führungskräfte manchmal auch argumentiert, es sei in Israels Interesse, die Hamas strategisch zu unterstützen, um die palästinensische Bevölkerung gespalten zu halten. So berichtete David K. Shipler, der frühere Leiter des New-York-Times-Büros in Jerusalem, Israel habe in den frühen 80er-Jahren Angehörigen der Muslimbruderschaft, die später die Hamas gründeten, Geld in der Hoffnung angeboten, so die Macht der als bedrohlich empfundenen PLO zu schwächen. Diese Dynamik setzt sich bis heute fort. Im März 2019 sagte Netanjahu der Likudfraktion in der Knesset, wer einen palästinensischen Staat verhindern wolle, müsse sowohl die Hamas als auch Geldflüsse an sie befürworten: „Das ist Teil unserer Strategie – die Palästinenser im Gazastreifen von den Palästinensern in der Westbank zu isolieren.“

https://jewishcurrents.org/the-hamas-attacks-and-israeli-response-an-explainer#what-is-hamas-the-palestinian-militant-political-group-that-led-the-attacks

 

LEITARTIKEL DER REDAKTION, THE GUARDIAN, LONDON, 8. OKTOBER

Vor etwas mehr als einer Woche sagte Präsident Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan: „Der Mittlere Osten war seit zwei Jahrzehnten nicht so ruhig wie heute.“ Die Ereignisse vom Wochenende zeigen, dass er nicht nur spektakulär falsch lag, sondern auch, wie hoch die Kosten des Abrückens der USA von der Region sind. Es besteht das Risiko wachsender Gewalt in der Westbank sowie eines Flächenbrandes unter Einbezug der Hisbollah aus dem Libanon. Am Sonntagmorgen erschoss ein ägyptischer Polizist zwei israelische Touristen in Alexandria. Die Hamas hat nicht nur den Weg zur Normalisierung der Beziehungen von Saudi-Arabien und Israel zerstört. Sie hat mit gewaltigen menschlichen Verlusten auch gezeigt, dass Verträge mit den Golfstaaten, in denen die palästinensische Bevölkerung und ihre Bedürfnisse als zweitrangig behandelt werden, keine Lösung sind und dass der Status quo vor Samstag weder nachhaltig noch beherrschbar war.

https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/oct/08/the-guardian-view-on-the-hamas-attack-a-new-and-deadly-chapter-opens-in-the-middle-east

 

GIDI WEITZ, HAARETZ, TEL AVIV, 9. OKTOBER

Netanjahus gesamtes Weltbild ist im Lauf eines einzigen Tages kollabiert. Er war überzeugt, er könne mit arabischen Tyrannen Geschäfte machen und zugleich die palästinensische Bevölkerung – den Kern des arabisch-jüdischen Konflikts – ignorieren. Sein Lebenswerk war, das Staatsschiff von dem Kurs wegzulenken, den seine Vorgänger von Yitzhak Rabin bis Ehud Olmert eingeschlagen hatten, und die Zwei-Staaten-Lösung unmöglich zu machen. (…) Die schlimmste Terrorattacke in der Geschichte Israels nimmt Netanjahu zudem den Titel des „Terrorismusexperten“.

https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/oct/08/the-guardian-view-on-the-hamas-attack-a-new-and-deadly-chapter-opens-in-the-middle-east

 

MOUSTAFA BAYOUMI, THE GUARDIAN, LONDON, 11. OKTOBER

Was genau zählt als Provokation? Offenbar nicht die große Zahl von Siedlern – laut einem Medienbericht mehr als 800 –, die am 5. Oktober die al-Aqsa-Moschee stürmten. Auch nicht die 248 palästinensischen Leben, die israelische Sicherheitskräfte oder Siedler vom 1. Januar bis 4. Oktober dieses Jahres beendeten. Und auch nicht die Missachtung der Menschenrechte der palästinensischen Bevölkerung sowie ihrer Hoffnungen auf einen eigenen Nationalstaat. Man kann und muss in solchem Handeln Provokationen erkennen, ohne deshalb weitere mörderische Gewalt gegen die Zivilbevölkerung zu befürworten. Wenn Sie aber nur die Fernsehnachrichten in den USA verfolgen, würden Sie vermutlich denken, dass Aktionen immer von palästinensischer Seite ausgehen und Israel nur reagiert. Sie würden vielleicht sogar denken, dass Erstere israelisches Land kolonialisieren. Sie glauben dann vermutlich auch, dass Israel, das über 5 Millionen palästinensische Menschen auf der Westbank und im Gazastreifen herrscht, ihnen aber das Stimmrecht bei israelischen Wahlen vorenthält, eine Demokratie ist. (…) In den USA werden wir zu Recht viel über US-Staatsangehörige, die von Hamas getötet oder entführt wurden, erfahren, aber werden sich dieselben Stimmen in derselben Lautstärke für Landsleute palästinensischer Abstammung erheben, die in Gaza bedroht und getötet werden? Haben diese Stimmen Antworten gefordert, als Israels Militär im Mai 2022 die palästinensisch-amerikanische Journalistin Shireen Abu Akleh erschoss?

https://www.theguardian.com/world/2023/oct/11/israel-palestine-war-biden-zelenskiy

 

ZAIN UL ABDIN JESSAR, DHAKA TRIBUNE, 12. OKTOBER

Sind israelische Leben wichtiger als palästinensische? Warum erwarten Israelis Frieden von den Unterdrückten, wenn ihr eigener Verteidigungsminister von „menschlichen Tieren“ spricht? Die schamlose Doppelmoral des Westens dreht einem schlicht den Magen um, um es milde zu formulieren. (…) Der Westen muss seine vorurteilsbeladene Rolle im Mittleren Osten und anderen Regionen ablegen. Anstatt die lange Besatzung Palästinas für illegal zu erklären und die Grausamkeiten gegen die dortige Bevölkerung zu stoppen, gibt der Westen dem Militär des jüdischen Staats volle Rückendeckung. Das wird in der Region zu weiterer Eskalation führen. Der einzige Weg aus dem aktuell lodernden Inferno ist, der Zwei-Staaten-Lösung durch Erneuerung der geografischen Grenzen von vor 1967 eine Chance zu geben. Globale und regionale Mächte sowie internationale Organisationen müssen sich bemühen, dieses Ziel zu erreichen. Andernfalls wird es mehr Tod und Blutvergießen auf beiden Seiten geben.

https://www.dawn.com/news/1780658/attack-by-hamas-is-actually-a-reaction

 

EDWARD LUCE, FINANCIAL TIMES, LONDON, 11. OKTOBER

Die Massaker vom Wochenende waren darauf angelegt, brutale israelische Gegenschläge im Gazastreifen zu provozieren, was das manichäische Weltbild der Hamas sowie ihren Anspruch, die zentrale legitime Stimme der palästinensischen Bevölkerung zu sein, bestätigen würde. Dadurch würde die Macht der Fatah in der besetzten Westbank weiter unterhöhlt und Extremismus in Israel angefacht. Beide Effekte würden das Ansehen Amerikas schwächen und die Sicherheit Israels weiter untergraben. Emotional ist die Versuchung groß, Netanjahus Regierung unbedingte Unterstützung zu bieten. Es fällt schwer, Berichte über abgeschlachtete Kinder zu hören, ohne blinden Rachegelüsten nachzugeben. Vernünftig ist aber, das Skript, dass die Hamas will, abzulehnen. (…) Die Israelis und die palästinensische Bevölkerung stehen an der Schwelle zu einem noch dunkleren Kapitel ihrer Geschichte. Biden kann den Ablauf des Skripts noch stoppen. Etwas Israelfreundlicheres kann er gar nicht tun.

https://www.ft.com/content/88f207b5-7870-4936-ab4b-ec9922ad3c9e

 

Martin Konečný, THE GUARDIAN, LONDON, 12. OKTOBER

Am Montag verkündete EU-Kommissar Olivér Várhelyi unerwartet in einem Social-Media-Post den Stopp der EU-Entwicklungshilfe für die palästinensische Bevölkerung im Wert von 690 Millionen Euro. Das Ausmaß des Terrors gegen Israel nannte er einen „Wendepunkt“. Mit Zahlungen von jährlich rund 300 Millionen Euro ist die EU für die besetzten Gebiete die wichtigste Quelle von Hilfszahlungen. Der offenbar nicht abgestimmte Vorstoß des ungarischen Kommissars wurde später zurückgenommen, nachdem mehrere Regierungen sowie der oberste Diplomat der EU, Josep Borrell, und der Präsident des europäischen Rats, Charles Michel, Einspruch erhoben hatten. Nun will die EU ihre Entwicklungshilfe überprüfen, nicht offiziell aussetzen. Várhelyi – der von Viktor Orbán, Ungarns Premierminister und engem Verbündeten Benjamin Netanjahus nominiert wurde – ist für die Nachbarschaftsbeziehungen der EU zuständig und versäumt kaum eine Gelegenheit, sich als treuester Verbündeter Israels in Brüssel zu geben. (…) Dass die Aussetzung der Hilfe überhaupt erwogen wurde und weiterhin eine Möglichkeit bleibt, ist unfassbar. Wenn es darum geht, die Hamas zu bestrafen, ist es zwecklos, Europas Hilfe einzustellen. Die EU und ihre Mitgliedsländer finanzieren die Hamas nicht. Allerdings würde das Einfrieren der Mittel die von der EU unterstützte palästinensische Autonomiebehörde, die Hauptgegnerin der Hamas, aushöhlen. Tatsächlich wäre die Aussetzung ein Geschenk an die Hamas, weil sie die Autonomiebehörde weiter schwächen und ihren Kollaps in der Westbank wahrscheinlicher machen würde. (…) Es ist vollkommen legitim, den Mittelfluss zu überprüfen, um sicherzustellen, dass kein Geld an die Hamas oder andere Gewalttätige fließt. Aber Hilfsleistungen vorauseilend auszusetzen nährt nur falsche Verschwörungserzählungen, denen zufolge die EU Terrorismus finanziert.

https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/oct/12/eu-aid-palestinians-hamas-brussels-crisis

 

Dieser Artikel wurde am 26. Oktober 2023 aktualisiert.