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Islamistische Ideologien

Fundamental unterschiedliche Fundamentalismen

Syriens langer Bürgerkrieg hat deutlich gemacht, dass verschiedene islamistische Gruppen eher gegeneinander als miteinander agieren. Dem Machterhalt des Assad-Regimes hat das jahrzehntelang geholfen. Vielen Menschen im Westen ist nicht bewusst, wie kompliziert das, was wir Islamismus nennen, tatsächlich ist. Syrien bietet dafür ein anschauliches Beispiel.
HTS-Chef Ahmed al-Sharaa am 8. Dezember in der Umayyaden-Moschee in Damaskus: Noch ist nicht klar, ob er sich als Sektierer oder als pluralistischer Politiker entpuppt. picture alliance / abaca / Balkis Press/ABACA HTS-Chef Ahmed al-Sharaa am 8. Dezember in der Umayyaden-Moschee in Damaskus: Noch ist nicht klar, ob er sich als Sektierer oder als pluralistischer Politiker entpuppt.

Dieser Artikel wurde erstmals am 10. Dezember 2024 auf Englisch veröffentlicht und am 29. Januar 2025 aktualisiert.

Anfang Dezember eroberten Rebellen Damaskus und zwangen den grausamen Machthaber Baschar al-Assad nach Russland zu fliegen. Ob damit auch das Ende des langen Bürgerkriegs eingeleitet wurde, ist noch offen. Es kommt derzeit immer wieder zu Gefechten zwischen kurdischen Milizen und von der Türkei unterstützten Kräften.

Die mächtigste Führungspersönlichkeit scheint aktuell Ahmed al-Sharaa zu sein. Er ist auch als Abu Mohammad al-Jolani bekannt und der Anführer der sunnitischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS). Sie ist der stärkste Rebellenverband – mit Wurzeln in Al-Qaida und ISIS. Vom weltweiten dschihadistischen Terrorismus hat sie sich aber distanziert. 

Al-Sharaa neigt nun zu einer Art syrischem Nationalismus, der die große kulturelle Vielfalt des Landes, die auch andere Religionen als den Islam einschließt, zu akzeptieren scheint. Die HTS hat auch behutsam Verbindungen zur türkischen Regierung geknüpft, was zumindest anfangs schwierig war. Ob die HTS Demokratie will und was für ein politisches System jetzt in Syrien entsteht, sind offene Fragen.

Deutlich wurde im langen Bürgerkrieg jedenfalls, dass verschiedene islamistische Ideologien nicht zusammenpassen. Es gibt historisch drei Hauptströmungen, die alle in Syrien heute relevant sind. Sie neigen eher dazu, sich gegenseitig zu bekämpfen, als zu kooperieren. Die drei Varianten des islamistischen Fundamentalismus sind: 

  • die Muslimbruderschaft, die in den 1920er-Jahren in Ägypten als Reaktion auf den britischen Imperialismus entstand, 
  • der wahhabitische Puritanismus, den Saudi-Arabien und die anderen Golfmonarchien propagieren, und 
  • schiitischer Extremismus, wie ihn Irans Theokratie fördert.

Keine dieser Ideologien ist in sich völlig kohärent oder über lange Zeit beständig. Es gibt keinen wirklich monolithischen Fundamentalismus. Wie andere politische Ideologien passen sich auch islamistische Ideologien immer wieder an sich verändernde Verhältnisse an.

Muslimbrüder

Die Muslimbruderschaft ist vermutlich am modernsten. Sie ähnelt in gewisser Weise dem Hindu-chauvinistischen RSS in Indien, zu dem unter anderen Premierminister Narendra Modi gehört. Beide Organisationen stützten sich anfangs auf gebildete Mittelschichten, denen die Korruption der Kolonialherrschaft so unerträglich schien, dass sie auf die reinigende Kraft des Glaubens setzten. Angehörige der Ärzte-, Apotheker- oder Anwaltschaft sowie anderer privilegierter Berufe wollten die Fremdherrschaft durch eine gerechtere Ordnung ersetzt sehen. Führungspersönlichkeiten sollten dabei von der Religion inspiriert, aber nicht unbedingt Geistliche sein.

Ein großer Unterschied zwischen den Muslimbrüdern und den Hindu-Chauvinisten war die Engstirnigkeit Letzterer. Ihnen war die Ausgrenzung der muslimischen Bevölkerung tendenziell wichtiger als die nationale Unabhängigkeit. Derweil forderten Südasiens muslimische Organisationen einen eigenen Staat, um nicht der hinduistischen Mehrheit Britisch-Indiens ausgeliefert zu werden. Ihre Partei, die Muslimliga, war aber nicht in dem Sinne fundamentalistisch, dass sie zu den Grundsätzen des Koran zurückkehren wollte. 

In Ägypten hatte die Muslimbruderschaft politische und soziale Ziele. Sie förderte karitative Initiativen ebenso wie Bildungseinrichtungen. Angesichts harter politischer Repression organisierte sie sich in geheimen Netzwerken.

Ihr Vorbild wurde in anderen arabischen Mittelmeerländern und der Türkei kopiert. Auch dort gehörten die Geheimbünde zur unterdrückten Opposition. Nach dem Ende des ottomanischen Reichs und dem Abzug der Kolonialmächte kamen dort autoritäre Herrscher an die Macht, in deren Augen Religion den säkularen Fortschritt nur bremsen konnte. Für Muslimbrüder bedeutete das oft Inhaftierung. 

Ihre geheimen Netzwerke erwiesen sich jedoch als nachhaltig. Recep Tayyip Erdogan, heute Präsident der Türkei und zuvor ihr Premierminister, gehört zu dieser Tradition. Er agiert zunehmend autoritär, war aber zunächst ein Reformer. Es ließe sich sagen, dass er erst den alten tiefen Staat der Türkei abgerissen hat und nun einen neuen baut. Seine Abkehr von der EU hatte allerdings auch mit Enttäuschungen über den blockierten Beitrittsprozess zu tun. 

Ein weiterer wichtiger Muslimbruder war Mohammed Mursi, der als gewählter Präsident nach dem Arabischen Frühling zeitweilig Ägypten regierte. Das Militär stürzte ihn jedoch, und seine islamistische Strömung wird abermals unterdrückt. 

Auch der tunesische Politiker Rachid Ghannouchi gehört zur selben Tradition. Wie Mursi gewann er im Arabischen Frühling große Bedeutung. Unter der zunehmend autoritären Herrschaft des aktuellen Präsidenten Kais Saied wurde er aber wegen Korruption angeklagt und 2024 zu Gefängnishaft verurteilt. Seine Partei Ennahda hatte sich jedoch so weit entwickelt, dass sie in Anlehnung an die europäische Christdemokratie den Begriff Muslimdemokratie verwendete.

Viele Menschen in Europa werden das befremdlich finden, weil sie Islam und Demokratie für unvereinbar halten. Ghannouchis Wortwahl war aber plausibler, als ihnen klar sein wird. Seine Partei ähnelte christdemokratischen Parteien in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich in verschiedenen Hinsichten. Auch Letztere stützten sich auf Angehörige gebildeter Mittelschichten, die sich angesichts der Gräuel von Krieg und Naziherrschaft auf katholische Werte besannen. Ihre Kirche bleibt zwar bis heute hierarchisch ohne demokratische Verantwortung, aber dennoch wurden christdemokratische Parteien zu Säulen westeuropäischer Demokratien.

Wahr ist derweil auch, dass die Ideologie der Muslimbruderschaft nicht automatisch zu Pluralismus führt. Ein Gegenbeispiel bietet die terroristische Hamas in Palästina, deren Militanz allerdings auch nicht typisch ist. Muslimbrüdern wurde vielfach Terrorismus vorgeworfen, sie haben aber in den meisten Ländern mehr Gewalt erlitten als ausgeübt. 

In Syrien beispielsweise starben mindestens 10 000 Menschen, als Hafis al-Assad, der Vater und Vorgänger von Baschar al-Assad, in der Stadt Hama die Muslimbruderschaft auslöschen ließ. Anderen Schätzungen zufolge gab es sogar 40 000 Todesopfer. Heute sind in Syrien die Milizen, welche die Türkei unterstützt, tendenziell in der Muslimbruderschaft verankert.

Wahhabismus

Der Wahhabismus hat eine völlig andere Geschichte. Elitäre Clans nutzten diese puritanische Theologie, um absolutistische Königreiche auf der Arabischen Halbinsel zu schaffen. Um der Geringschätzung des Westens, aber auch arabischer Metropolen wie Kairo, Damaskus oder Tunis etwas entgegenzusetzen, betonte besonders das saudische Königshaus seine Rolle als Hüter des Glaubens und seiner heiligen Stätten. 

Die Bedeutung der Golfmonarchien wuchs selbstverständlich, als Ölexporte sie reich machten. Sie nutzten einen Teil des Geldes für wahhabitische Missionierung in vom Islam geprägten Entwicklungsländern. Mit der Finanzierung von Moscheen und Koranschulen gewannen sie großen Einfluss südlich der Sahara ebenso wie in Süd- und Südostasien. Wahhabitische Missionstätigkeit drängte dort den traditionell toleranten Sufi-Islam oft in die Defensive. 

Obwohl sie mit den USA und westlichen Ländern verbündet sind, haben die Golfmonarchien kein Interesse an Demokratie. Trotz ihres Despotismus gelang es ihnen aber nicht, alle wahhabitischen Strömungen im Griff zu behalten, so dass auch Terrororganisationen wie Al-Qaida und ISIS entstanden. 

In Afghanistan profitierten die Taliban von wahhabitischer Unterstützung. Sie sind vielleicht das deutlichste Beispiel dafür, wie destruktiv diese Ideologie sein kann. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Roten Armee 1980 in Afghanistan begann die wahhabitische Missionierung in pakistanischen Flüchtlingslagern. Dort entstanden die Taliban, die dann auch von den USA ermutigt wurden, heimzukehren und gegen die Besatzung zu kämpfen. 

In den späten 1990ern ergriffen die Taliban in Afghanistan tatsächlich die Macht. Sie boten dann Osama bin Ladens Terrororganisation eine Operationsbasis. Die Anschläge auf New York und Washington am 11. September 2001 waren blutige Spätfolgen der US-Unterstützung für die Taliban.

Wahhabiten und Muslimbrüder lassen sich leicht unterscheiden. Erstere kleiden sich traditionell, Letztere typischerweise westlich. Bündnisse zwischen ihnen sind selten, denn Muslimbrüder akzeptieren den Führungsanspruch der Saudis nicht und haben auch kein Interesse an monarchischer Herrschaft.

Entsprechend lehnen die Saudis die Muslimbrüder ab. In Ägypten stützt sich Präsident Fattah el-Sisi auf saudisch-wahhabitische Unterstützung, seit er 2013 Mursi in einem Militärputsch stürzte. Mehrere 100 Mursi-Anhänger verloren beim brutalen Raqqa-Massaker ihr Leben. Erdogan bezieht sich immer wieder auf dieses fürchterliche Ereignis, womit er auch klarmacht, zu welcher islamistischen Strömung er selbst gehört. Innerhalb der NATO ist er vermutlich der Spitzenpolitiker, der Saudi-Arabien am stärksten misstraut.

Als ISIS vor rund einem Jahrzehnt weite Teile Syriens kontrollierte, war der wahhabitische Dschihadismus dort besonders stark. In internationaler Kooperation wurden die Terroristen dezimiert, jedoch nicht völlig ausgeschaltet. Die HTS gehörte ursprünglich zu diesem Lager, hat sich aber längst davon distanziert. Das zeigt, dass sich auch sehr radikale Einstellungen im Lauf der Zeit ändern.

Schiitische Theokratie

Der schiitische Fundamentalismus wurde 1979 weltpolitisch relevant, als Massenproteste das Schah-Regime in Iran beendeten. Ayatollah Khomeini kehrte aus seinem Exil in Paris zurück. Dort gelang es ihm, ein theokratisches Regime zu etablieren, das bis heute das Land regiert. Es ist jedoch nicht monolithisch und hat mehrfach Strategien gewechselt. Der Iran hat einen gewählten Präsidenten, der allerdings die dominierende Rolle des obersten religiösen Führers akzeptieren muss. 

Der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten entstand früh. Der Islam spaltete sich schon bald, nachdem der Prophet Mohammed den Koran niedergeschrieben hatte. Die neue Religion hatte die arabischen Stämme vereint und ihnen ermöglicht, ein riesiges Reich vom Persischen Golf bis zur Atlantikküste zu erobern. Dennoch kam es bald zum blutigen Schisma. 

Anders als Sunniten haben Schiiten einen klar definierten Klerus mit fester Hierarchie. Der heutige Iran war jahrhundertelang das Kerngebiet des schiitischen Safawiden-Reichs. Zu dessen Nachbarn gehörten das sunnitische Ottomanische Reich im Westen und das ebenfalls sunnitische Moguln-Reich im Osten. Der schiitische Islam prägt die Kultur des Iran, was das heutige Regime geschickt ausnutzt.

In den vergangenen Jahrzehnten hat Teheran zudem schiitische Milizen in der Region gefördert. Die wichtigste davon ist die libanesische Hisbollah. In Syrien konnte sich Assad lange auf Unterstützung von ihr und dem Iran stützen. Dass sein Regime kollabierte, lag auch daran, dass Israels Kriegsführung Hisbollah und Iran erheblich geschwächt hat. Assad hatte am Schluss keine belastbaren Verbündeten in den Nachbarländern mehr. Relevant war immer auch, dass Assad Alawit ist, also zu einer Glaubensgemeinschaft mit schiitischem Hintergrund gehört. Furcht vor sunnitischer Rache war ein Grund, weshalb der Diktator die Opposition so brutal unterdrückte. 

Das Regime in Teheran pflegt antizionistische Rhetorik. Ob es wirklich Krieg mit Israel will, ist allerdings weniger klar, als dass ihm diese Haltung hilft, sunnitische Machthaber in der arabischen Welt zu diskreditieren. Die schiitischen Fundamentalisten werfen ihnen vor, das panislamische Anliegen Palästinas verraten zu haben.

Kaum überbrückbare Gräben

In diesem komplizierten Szenario war die Hamas bislang die einzige sunnitisch-islamistische Organisationen, die eng mit dem Iran kooperierte. Manche Beobachter bezeichnen sie sogar als Instrument des Iran. Dagegen spricht, dass die Terroranschläge auf Israel am 7. Oktober 2023 offensichtlich ohne Zustimmung Teherans verübt wurden. Vermutlich hoffte die Hamas-Spitze, sie werde einen regionalen Flächenbrand auslösen. Iran hat sich dagegen erkennbar bemüht, ihn zu verhindern. 

Die weiten Gräben zwischen den drei verschiedenen islamistischen Traditionen lassen sich kaum überbrücken. Ob Syrien Frieden findet, hängt unter anderem davon ab, ob die HTS als aktuell stärkste Kraft eine von Diversität geprägte Gesellschaft vereinigen kann. Wechselseitige Animositäten sind stark, und sie bestehen nicht nur zwischen islamischen Glaubensrichtungen, sondern auch gegenüber anderen Religionen.

Bislang war Katar das Zentrum von Interaktionen zwischen den drei islamistischen Traditionen. Ein Grund ist, dass die Al-Thani-Monarchie Katars mit Iran kooperieren muss, um gemeinsame Gasfelder im Persischen Golf zu nutzen. Katar folgt dem saudischen Vorbild bedingungsloser Gegnerschaft zum Iran nicht. 

Wichtig ist aber auch, dass die Al-Thanis selbst eine Rolle auf der Weltbühne beanspruchen. Entsprechend ist es stimmig, dass sie Kontakte zu Muslimbrüdern suchen und sogar Hamas-Spitzenleuten Exil boten. Katars Fernsehsender Al-Dschasira soll auch nicht nur Wahhabiten erreichen, sondern strebt weltweite Resonanz an. 

Hans Dembowski ist der ehemalige Chefredakteur von E+Z/D+C. 
euz.editor@dandc.eu

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