Unsere Sicht

Universelle Werte statt aggressiver Selbstgerechtigkeit

Alle Religionen der Menschheit haben dem Schweizer Theologen Hans Küng zufolge einen gemeinsamen Wertekern. Er sprach von Weltethos.
Netanjahu im September in der UN-Generalversammlung. picture alliance / Sipa USA / Anthony Behar Netanjahu im September in der UN-Generalversammlung.

Die gemeinsame normative Basis ermöglicht Dialog und Zusammenarbeit. Tatsächlich unterstützen interreligiöse Bündnisse die Art von Global Governance, die die Menschheit für nachhaltige Entwicklung  braucht.

Leider hat Glaube auch eine dunkle Seite. Unheilvolle Beispiele von Identitätspolitik plagen Palästina und Israel. Entmenschlichende Brutalität gibt es auf beiden Seiten – ebenso wie unschuldige Opfer.

Mit möglichst schockierendem Terror attackierte Hamas am 7. Oktober 2023 Israel. Die Spitzenleute dieser islamistischen Miliz wollten wohl einen regionalen Flächenbrand auslösen. Aus Erfahrung wussten sie, dass Israel hart zurückschlagen würde, und dann könnten auch Iran und Verbündete in den Krieg hineingezogen werden. Die Extremisten meinten, solch einen Konflikt werde Israel nicht überstehen. Die Hamas will Heiliges Land von der Herrschaft „Ungläubiger“ befreien. Palästinensische Leben sind ihr weniger wichtig. Zynisch heißt es, der Märtyrertod führe sofort in den Himmel.

Leider prägt destruktive Identitätspolitik auch Israel. Vom Staat unterstützt, bauen religiöse Zionist*innen seit Jahren illegale Siedlungen im Westjordanland, und sagen, Gott habe ihnen das Land versprochen. Die strikte Segregation im Westjordanland erinnert nicht nur Südafrikaner*innen an die Apartheid. Die Annexion der Westbank ist übrigens ein Ziel im Koalitionsvertrag Israels rechter Regierung. Einige Minister planen öffentlich bereits Siedlungen in Gaza. Ein neuer Bericht von Human Rights Watch mit dem Titel „Hopeless, starving and besieged“ enthält umfangreiche Belege für absichtsvolle, gewalttätige Vertreibung ohne Rückkehrchance. Das kann ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sein.

In diesem Lichte gesehen, ist das, was in Gaza geschieht, kein Kampf zwischen Gut und Böse, sondern ein Zusammenstoß fundamentalistischer Ideologien. Es ist bezeichnend, dass auch Israels Regierung Vorherrschaft „vom Fluss bis ans Meer“ beansprucht. Wenn palästinensische Personen diese Wörter wählen, wittern westliche Medien genozidale Absichten. 

Auf beiden Seiten erleiden die Folgen die, die die extremistische Weltsicht nicht teilen. Tatsächlich spaltet Identitätspolitik immer auch die eigene Gemeinschaft. Die westliche Öffentlichkeit hat viel über jüdisches Trauma erfahren, aber wenig über die tiefen Gräben in Israels Gesellschaft. Die westliche Öffentlichkeit kümmert sich nicht sonderlich um massenhaftes palästinensisches Leid, sondern unterstellt tendenziell, alle unterstützten die Islamisten. Dabei haben diese schon mehrfach Landsleute ermordet, die sie für Abtrünnige hielten oder die ihnen widersprachen. 

Vor den Kopf gestoßen 

Bei seiner UN-Generalversammlungsrede zeigte Israels Premier Benjamin Netanjahu wieder einmal Landkarten, auf denen für Palästina kein Platz war. Die besetzten Gebiete Gaza und Westjordanland wurden als israelisches Staatsgebiet angezeigt. 
Was für eine Chuzpe. Mitten im Krieg stieß Netanjahu damit westliche Regierungen, aber auch die anvisierten arabischen Verbündeten vor den Kopf. Sie alle fordern die Zweistaatenlösung, die seine Regierung ablehnt. Zugleich warf Netanjahu den UN und allen, die ihm nicht zustimmen, Antisemitismus vor. „Wir siegen“, ergänzte er in triumphierender Manier.  

Leider nimmt Netanjahu Antisemitismus nur lückenhaft wahr. Er hält still, wenn rechtsgerichtete Leute aus Europa oder Nordamerika anti-jüdisch agitieren. Prominente Beispiele waren Ungarns Regierungschef Viktor Orbán oder der Milliardär Elon Musk. Netanjahu nutzt Antisemitismusvorwürfe manipulativ, um alles zu rechtfertigen, was er tut, und alle zu diskreditieren, die ihn kritisieren. Uns so beschuldigte er denn auch den Internationalen Strafgerichtshof des Antisemitismus, als dieser ihm kürzlich in einem Haftbefehl unter anderem den Einsatz von Hunger als Waffe vorwarf. Dabei wird Israels Recht auf Selbstverteidigung überhaupt nicht in Frage gestellt. Das Gericht geht aber Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach.

Netanjahus Masche verfängt – und das macht es schwer, darauf zu bestehen, dass die Dinge kompliziert sind. Ja, Antisemitismus ist unakzeptabel, Islamophobie jedoch auch. Ja, manche Angriffe dienen Israels Selbstverteidigung, andere aber eher nicht. Zu viele entsprechen der Agenda des religiösen Zionismus, aber nicht internationalem Recht. Solche Aktionen nähren antizionistische und in der Folge auch antisemitische Gefühle. Thomas Friedman von der New York Times warnt, Israels Kriegsführung mache es zum Paria-Staat.

Israels treueste Unterstützer in den USA sind übrigens nicht Juden und Jüdinnen, sondern rechte Evangelikale, die glauben, Armageddon werde mit einem Flächenbrand im Mittleren Osten beginnen. Sie begeistern sich für Donald Trump, der nicht für einen gottesfürchtigen Lebensstil bekannt ist. Derweil hassen Europas Rechtsradikale Muslime mehr als Juden und finden es gut, wenn Israel schön weit weg gegen Erstere kämpft.

Wer in der Politik den Glauben für Identitätspolitik einsetzt, verstößt gegen das Weltethos, das allen Religionen gemein ist – egal, ob es sich um den Präsidenten der USA oder Russlands, die Regierungsspitzen Israels, Indiens oder Italiens oder die autokratischen Entscheidungsträger Irans oder Saudi-Arabiens handelt. Das globale Gemeinwohl braucht das Weltethos, um unseren kleinen Planeten für eine gemeinsame Zukunft gesund zu halten.

Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z/D+C.
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