Gaza-Krieg
Israel/Palästina: „Dinge so benennen, wie sie sind“
Was war die besondere Qualität der terroristischen Hamas-Attentate vom 7. Oktober 2023?
Sie waren so grausam wie möglich und sollten auch so wahrgenommen werden. Die Täter filmten brutale Verbrechen und dokumentierten sie online. Sie folgten dabei dem Vorbild des ISIS, der bekanntlich Hinrichtungsvideos auf Social-Media-Plattformen postete. Leider müssen wir uns nicht darüber wundern, zu welchen Gräueltaten Menschen fähig sind. Wir müssen aber darüber nachdenken, was sie damit bezwecken. Die Spitzenleute der Hamas sind fanatisch und skrupellos, aber nicht dumm. Sie wussten, dass Israel militärisch hart zurückschlagen würde. Das, was jetzt passiert, ist ein Geschenk an die Hamas, denn für sie ist jedes tote Kind in Gaza ein Propagandaerfolg, der von ihren eigenen blutrünstigen Attentaten ablenkt.
Israel muss sich aber doch vor Terrorismus schützen.
Ja, klar, aber wer sagt denn, dass Terrorismus militärisch geschlagen werden kann? Das hat die US-Regierung nach dem 11. September 2001 in Afghanistan und Irak versucht. Der Terror wurde nicht besiegt. Die Hamas will einen möglichst harten, umfassenden und langen Krieg mit vielen zivilen Opfern, weil das maximale Kritik an Israel auslöst und vielleicht auch andere – etwa die Hisbollah oder sogar den Iran – in den Konflikt hineinzieht. Die Hamas ist keine Befreiungsbewegung; sie schert sich nicht um das Wohlergehen ihres Volkes. Sie unterdrückt Frauen, macht Andersdenkende mundtot und opfert ihre eigenen Leute. Ihr kann die Zahl sogenannter „Märtyrer“ gar nicht hoch genug sein, denn sie will nicht Menschen befreien, sondern Israel zerstören.
Israel wurde gegründet, damit Juden und Jüdinnen nicht mehr schutzlos Pogromen ausgesetzt sein sollten. Es wurde ein wehrhafter Staat mit dem stärksten Militär der Region. Welche Verantwortung trägt eigentlich die Regierung von Benjamin Netanjahu dafür, dass trotzdem konzertierte Terroranschläge mit mehr als 1200 Toten und etwa 240 Entführten auf israelischem Boden möglich waren?
Dazu könnte ich sehr viel sagen. Wichtige Punkte sind jedenfalls:
- Viele Menschen hatten in den Wochen und Monaten vor den Anschlägen die Teilnahme an Reserveübungen des Militärs verweigert, um gegen die von Netanjahus Regierung konzipierte Justizreform zu protestieren. Diese soll mit kleiner Parlamentsmehrheit das Oberste Gericht schwächen und die Gewaltenteilung in Israel zugunsten der Regierung abschaffen. Tatsächlich war die Protestbewegung so breit und stark, dass Israel kurz vor einem Bürgerkrieg stand.
- Die Hamas griff an einem Samstagmorgen an. Die militärische Mobilisierung war schwierig, weil am Schabbat wegen der Politik orthodoxer Regierungsmitglieder der Verkehr ruhen soll. Als klar war, welche Grausamkeiten sich abspielten, meldeten sich Reservisten und Reservistinnen spontan zurück, mussten aber unvorbereitet in den Einsatz und weitgehend unkoordiniert improvisieren. Netanjahu hatte der Militärspitze im Sommer nicht einmal einen Termin gegeben, als diese ihm sagen wollte, die Auseinandersetzungen über die Justizreform gefährdeten Israels Sicherheit. Er hatte auch dogmatisch lange erklärt, die Hamas sei zu schwach, um Israel zu gefährden.
- Entsprechend hatte seine Regierung drei Bataillone von der Grenze nach Gaza abgezogen, um völkerrechtswidrige israelische Siedlungen im Westjordanland besser zu schützen. Die Abwesenheit dieser Truppen erleichterte der Hamas die Grenzüberschreitung nach Israel.
- Netanjahus Lager spielt seit Langem die Hamas gegen PLO und Autonomiebehörde aus. Er selbst hat gesagt, wer die Zwei-Staaten-Lösung verhindern wolle, brauche die Hamas. Ähnlich hat sich auch Finanzminister Bezalel Smotrich geäußert. Diese Leute haben in der israelischen Politik das Wort Frieden lächerlich gemacht und versprachen, mit militärischer Dominanz auf Dauer Sicherheit zu gewährleisten. Sie haben die Hamas stark werden lassen, um die PLO, die sich auf Friedensverträge eingelassen hatte und die palästinensische Autonomiebehörde leitete, zu schwächen. Das ähnelte der Politik der USA, die ursprünglich die Taliban unterstützten, um die Kommunisten in Afghanistan zu schwächen. Dieses Konzept ist in Afghanistan gescheitert und – wie zu erwarten war – jetzt auch in Israel.
Protest in Tel Aviv gegen Schwächung des Obersten Gerichts im Sommer. (picture-alliance/REUTERS/Corinna Kern)
Ist Netanjahu deshalb in Israel mittlerweile so unbeliebt, dass ihn in Meinungsumfragen weniger als 20 Prozent unterstützen?
Über einzelne von mir genannte Punkte gibt es große Meinungsverschiedenheiten. Alle Israelis sehen jedoch, dass Netanjahus Sicherheitsversprechen hohl war, und dass er seine Koalition mit Rechtsextremen brauchte, um als Premierminister die Immunität zu haben, die ihn vor Korruptionsverfahren schützt. Israels Justiz ahndet – wie sich das in einem demokratischen Rechtsstaat gehört – Straftaten auch von politischen Spitzenleuten. Der ehemalige Premierminister Ehud Olmert saß wegen Korruption im Gefängnis und der ehemalige Präsident Mosche Katzav wegen Vergewaltigung. Auch aus Angst vor einer Haftstrafe will Netanjahu die Justiz schwächen. Die Entmachtung des Obersten Gerichts entspricht aber vor allem rechtsradikalen Wünschen, denn es hat bislang Minderheiten zwar keine Gleichstellung gesichert, ihre Grundrechte aber in ernst zu nehmendem Maße geschützt. Es hat zum Beispiel kürzlich beschlossen, dass Antikriegsdemonstrationen nicht pauschal verboten werden dürfen, und hat auch manchmal gegen die Enteignung von palästinensischen Menschen entschieden.
Die großen internationalen Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch werfen Israel Apartheid vor. Wie sehen Sie das?
Auch die israelische Menschenrechtsorganisation B'Tselem tut das. Dieser Rechtsbegriff besagt, dass in einem Gebiet für verschiedene Bevölkerungsgruppen verschiedene Rechtssysteme gelten. Das ist unbestreitbar die Lebenswirklichkeit im Westjordanland. Israelische Siedler und Siedlerinnen haben dort volle Bürgerrechte, den Schutz der Sicherheitskräfte und Stimmrecht bei den Parlamentswahlen. Für die palästinensische Bevölkerung gilt dagegen Besatzungsrecht. Ihre Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt, und ihr Land und Leben werden nicht garantiert. Vor den Hamas-Attentaten wurden 2023 bereits 179 von ihnen umgebracht – angeblich aus Sicherheitsgründen. Seither eskaliert die Siedlergewalt weiter. Viele israelische Initiativen lehnen die Unrechtsverhältnisse im Westjordanland, die sich auch in erschütternder Armut zeigen, ab. Menschen werden aus Dörfern – die manchmal nur aus Plastiktüten hergestellten Zeltlagern gleichen – vertrieben, weil Platz für neue israelische Siedlungen gebraucht wird. Israelische Freunde von mir übernachten mittlerweile regelmäßig dort, um die bedrohten Dorfgemeinschaften zu schützen. Manche Regierungsleute sprechen unbekümmert von einer zweiten großen Vertreibung wie 1948.
Was halten Sie von dem Begriff Siedlerkolonialismus?
Er passt nicht auf Israel, dessen Geschichte völlig anders ist als die Südafrikas oder Algeriens, wo Weiße mit Unterstützung ihrer imperialen Heimatländer sich in großem Stil Grundbesitz verschafften und die heimische Bevölkerung ausbeuteten. Die jüdische Zuwanderung nach Palästina, die von Europa aus im späten 19. Jahrhundert begann, diente nicht diesem imperialistischen Zweck, sondern war eine Flucht vor Ausgrenzung, Diskriminierung und jederzeit möglicher Gewalt. Mittlerweile stammt die Hälfte der Israelis sogar aus arabischen Ländern, wo sie wegen Repression und gewalttätiger Hetze nicht bleiben konnten. Es ist absurd, jetzt jüdische Israelis als „weiß“ und palästinensische Menschen als „Persons of Colour“ zu definieren, nur weil das zu postkolonialen Hypothesen passt. An der Hautfarbe lassen sie sich nicht unterscheiden. Für die Westbank ließe sich aber vielleicht von Siedlerkolonialismus sprechen, wenn die Gewalt anhält, zumal es um Land geht, auf dem eigentlich ein palästinensischer Staat entstehen soll.
Wie kann es weitergehen?
Das weiß im Moment niemand. Wir erleben eine extreme Krisensituation, in der Menschen auf Menschen reagieren – und sie tun das bekanntlich nicht unbedingt auf rationale Weise. Ich halte es für dringend nötig, davon wegzukommen, die Probleme als Nullsummenspiel zu sehen. Israel und Palästina müssen lernen, miteinander auszukommen. Deshalb hat es keinen Sinn, ständig zu fragen, ob etwas nun pro-israelisch oder pro-palästinensisch ist. Nötig ist ein Frieden, der für beide Seiten funktioniert. Polarisierung nutzt nur den Radikalen auf beiden Seiten.
Damit es Frieden geben kann, braucht die zahlenmäßig starke palästinensische Jugend Chancen und Perspektiven. Reicht dafür ein winziger souveräner Staat? Ich glaube, es wäre von vornherein so etwas wie eine israelisch-palästinensische Freihandelszone nötig, um die bestehende Verflechtung auszubauen und wirtschaftliche Synergien zu nutzen.
Das wäre gut, aber der Weg dahin ist noch sehr weit. Ohne erheblichen internationalen Druck und viel internationales Geld wird es nicht gehen. In Israel muss auch innenpolitisch viel passieren. Der Siedlungsbau muss nicht nur aufhören, es müssen sogar Siedlungen zurückgebaut werden, um überhaupt ausreichend Platz für einen palästinensischen Staat zu schaffen. Dafür muss aber mehr günstiger Wohnraum in Israel entstehen. Nicht nur Fanatiker wohnen in den Siedlungen, sondern auch Menschen, die wegen des subventionierten Wohnraums dort hingezogen sind. Mit der Förderung der Siedlungen und anderen Maßnahmen haben diverse aufeinander folgende Netanjahu-Regierungen jahrelang getan, was sie konnten, um die Zwei-Staaten-Lösung unmöglich zu machen. Sie haben auch alle Israelis, die Frieden und Ausgleich wollten, als naive Traumtänzer diskreditiert – gerade so, als sei es weise, die gesamte palästinensische Bevölkerung ausschließlich als Sicherheitsrisiko zu behandeln und an permanente militärische Überlegenheit zu glauben.
Aber ist die palästinensische Autonomiebehörde ein geeigneter Verhandlungspartner? Sie ist wegen Korruption, Ineffizienz und enger Kooperation mit Israel wenig beliebt.
Positiv ist jedenfalls, dass die große Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung auch die Hamas nicht unterstützt, weil sie Angst vor ihr hat und sie ihr nichts bringt. Die letzte Wahl war 2006, und bei der letzten Umfrage vor dem 7. Oktober sprachen sich nur 27 Prozent für die Hamas aus. Israel braucht einen Friedensprozess, muss also ein geeignetes Gegenüber finden. Stattdessen hat Netanjahu dafür gesorgt, dass es kein kompetentes Gegenüber gibt, indem er öffentlich Hamas unterstützte und die PLO geschwächt hat.
Deutschland trägt wegen des Völkermords der Nazis eine besondere Verantwortung für Israel. Aber haben wir nicht auch Verantwortung für die besetzten Gebiete?
Ja, selbstverständlich. Die Lehre aus der Nazizeit ist nicht nur, dass Juden und Jüdinnen einen besonderen Schutzraum brauchen. Sie ist, dass die Menschenrechte für alle gelten müssen. Es ist gut, dass Deutschland Verantwortung für Juden und Jüdinnen übernimmt, aber das Vernichtungsdenken der Nazis richtete sich auch gegen andere – Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle und Andersdenkende. Und der Herrenmenschenideologie zufolge sollten alle slawischen Nationen versklavt werden. Hitlers Krieg forderte Millionen von ihnen das Leben. Die große Frage ist nun aber: Schützt bedingungslose Unterstützung der aktuellen Regierungspolitik Israel überhaupt? Die große Mehrheit der Israelis hält die Sicherheitspolitik seit der Abkehr von den Osloer Verträgen jedenfalls für komplett gescheitert.
Aus deutscher Sicht ist das Existenzrecht Israels unverhandelbar. Ich frage mich aber, wie wir das palästinensischen Jugendlichen erklären können, die nur erlebt haben, dass Israels Regierung keinen palästinensischen Staat zulässt.
Prozesse von Annäherung und Versöhnung sind schwierig. Dinge müssen so benannt werden, wie sie sind. Wer jüdisches Leid betont, palästinensisches aber nicht wahrnimmt, kann Antisemitismus nicht wirksam entgegenwirken. Die Lebenserfahrung der palästinensischen Jugend spielt selbstverständlich eine Rolle, und einseitige Stellungnahmen für Israel bestätigen gefährliche Ressentiments. Damit sage ich nicht, dass das Existenzrecht Israels verhandelbar wäre. Es muss garantiert werden – zusammen mit einer Garantie, dass Menschenrechte auch für Palästinenser und Palästinenserinnen gelten.
Wer bestimmt eigentlich, wer oder was antisemitisch ist? Es gibt bizarre Auswüchse. In Italien werfen stramm rechte Regierungskreise dem Kippa-tragenden, jüdischen Theatermann Moni Ovadia Antisemitismus vor. Er kritisiert seit Langem die Besatzungspolitik und sagt nun – ähnlich wie UN-Generalsekretär António Guterres, aber noch deutlicher –, die Hamas-Morde hätten nicht in einem Vakuum stattgefunden, sondern in einem Kontext der Unterdrückung.
Ich kenne solche Übergriffe auch aus Deutschland. Wer entscheidet, was antisemitisch ist – auch wenn es von Juden und Jüdinnen kommt? Vor einem Jahr hatten wir den Fall der Aussetzung des preisgekrönten Theaterstücks „Vögel“, weil einige jüdische Studierende empfunden hatten, das Stück sei antisemitisch. Das Stück wurde von einem libanesisch-kanadischen Autor geschrieben, in engster Zusammenarbeit mit der großen jüdischen Historikerin Natalie Zemon Davis. Mit 94 Jahren – vor Kurzem ist sie leider gestorben – hat sie dann einen Leitartikel geschrieben, in dem sie darlegte, warum das Stück alles anders als antisemitisch ist. Im Grunde genommen war es ein Update von „Nathan der Weise“. Daraufhin hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), der sogenannte Antisemitismus-Watchdog, sie als Unterstützerin der Boycott-Divestment-Sanctions (BDS) bezeichnet, obwohl sie nie etwas damit zu tun hatte. Da überlegte sie, Klage zu erheben, war aber schon von Krankheit gezeichnet.
In Deutschland wird tendenziell jede Kritik an Israel mit bösartigem Antisemitismus gleichgesetzt. Wie sehen Sie das?
Zur demokratischen Kultur gehört, dass Regierungshandeln grundsätzlich kritisiert werden darf. Die deutsche Öffentlichkeit weiß auch, dass Kritik an Donald Trump während seiner Präsidentschaft nicht einfach Ausdruck von Antiamerikanismus war. Sie unterstellt auch denen, die sich gegen rechtspopulistische Staats- und Regierungschefs wie Recep Tayyip Erdogan in der Türkei oder Narendra Modi in Indien äußern, keinen Hass auf deren Länder oder deren Glauben. Es gibt keinen Grund, Israels Regierungschef anders zu behandeln, obwohl auch er jede Kritik an sich selbst als Missachtung seines Volkes abzutun versucht. Ich würde mir wünschen, dass die deutsche Politik sich in den Beziehungen zu Israel von Fakten und Wissenschaft leiten ließe und weniger von Schuldkomplexen.
Susan Neiman ist Philosophin und Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Vorher war sie Philosophieprofessorin an der Yale University und der Tel Aviv University. Sie hat die Staatsbürgerschaft Deutschlands, Israels und der USA.