Sustainable Development Goals
Die Ambivalenz der Religionen
Was ist interreligiöser Dialog?
Es geht im Kern darum, Glaubensdifferenzen und -gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Religionszugehörigkeiten im Gespräch zu erörtern. Je mehr verschiedene Religionsgemeinschaften beteiligt sind, umso komplizierter wird es.
Aber es gibt doch Werte wie Frieden, Gewaltfreiheit oder Nächstenliebe, die auf unterschiedliche Weise in allen Religionen verankert sind.
Ja, es gibt fünf übereinstimmende grundlegende Normen:
- Die goldene Regel: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.
- Bewahrung der Schöpfung, was wir modern ökologische Nachhaltigkeit nennen.
- Du sollst nicht töten, in allen Weltreligionen gibt es das Tötungsverbot.
- Die Gleichheit aller vor dem Göttlichen, dass niemand mehr wert ist als der andere.
- Religionsfreiheit und Schutz derselben.
Was das in der Praxis bedeutet, ist aber sehr stark kontextabhängig. Besonders problematisch ist religiöser Nationalismus, der tendenziell weltweit zunimmt. Sei es Hindu-Nationalismus, sunnitischer Nationalismus oder katholischer Nationalismus. In einigen Ländern stellen Politiker ihre jeweilige Religionsgemeinschaft gern als irgendwie benachteiligt oder betrogene Bevölkerungsgruppe dar, setzen sie aber auch mit der ganzen Nation gleich. Sie nutzen die Religion dazu, ein latent aggressives Wir-Gefühl zu erzeugen, was mit den spirituellen Grundlagen des Glaubens oft nicht viel zu tun hat.
Manchmal stellen sie sich sogar gegen diese Grundlagen. In Polen betont Jaroslaw Kaczynski zum Beispiel die katholische Identität Polens, lehnt aber jegliche Kompromisse in Sachen Migration ab. Damit widerspricht er direkt dem Papst, der für die Aufnahme von Geflüchteten eintritt. In Italien ist aus ähnlichen Gründen bizarr, dass Matteo Salvini, der kürzlich aus der Regierung ausgeschiedene Innenminister, gern mit einem katholischen Rosenkranz in der Hand gegen Flüchtlinge wettert.
Religiöse Symbolik kann genutzt werden, um machtpolitische Partikularinteressen voranzubringen. Sie wird dann oft mit anderen identitätsprägenden Dingen wie etwa Sprache, Ethnie, Familienzugehörigkeit oder regionaler Herkunft vermengt. Bei PaRD ist uns die grundsätzliche Ambivalenz von Religionen bewusst. Sie predigen einerseits universelle Werte, können aber auch identitätspolitisch verwendet werden. Um sich dem politischem Missbrauch entgegenstellen zu können, müssen wir verstehen, wie Legitimation aufgebaut wird.
Kann interreligiöse Kooperation solchen Missbrauch denn verhindern?
Wechselseitiges Verständnis ist jedenfalls hilfreich, und interreligiöser Dialog kann sogar ganz wesentlich zur Schaffung und Sicherung von Frieden beitragen – zum Beispiel in der Zentralafrikanischen Republik. Dort ist der Staat im Bürgerkrieg kollabiert. Es funktioniert praktisch nichts mehr. Aber wenn die Spitzenleute der katholischen Kirche, des Islams und der Evangelischen Provinienz sich zu Gesprächen treffen, bekommt das große Aufmerksamkeit. Und wenn sie etwas vereinbaren, hat das Konsequenzen, denn sie sind die Einzigen, die noch so etwas wie kollektive Autorität im Land ausüben können. Auch in anderen Krisengebieten, wie etwa der philippinischen Insel Mindanao oder Sri Lanka, ist häufig der interreligiöse Dialog Beginn für bessere Zusammenarbeit in der lokalen oder regionalen Entwicklung.
Die weltweit gefährlichste Spannung besteht aber derzeit zwischen sunnitischen und schiitischen Moslems, also nicht zwischen Angehörigen von unterschiedlichen Religionen.
Die Erfahrung zeigt, dass intrareligiöser Dialog oft deutlich schwieriger und komplexer ist als interreligiöser Dialog. Das hat unter anderem damit zu tun, dass die jeweils andere Seite sich auf dieselben Grundlagen bezieht wie die eigene. Die eigene Position wird also heftiger in Frage gestellt. Intrareligiöser Dialog findet oft nicht statt – besonders dann nicht, wenn er dringend nötig wäre. Selbst innerhalb theologisch recht klar definierter Strömungen kann es Spannungen geben. Das ist zum Beispiel aktuell bei den Wahhabiten in Saudi-Arabien der Fall. Zu ihren Grundprinzipien gehört, den Koran wortwörtlich auszulegen. Dennoch gibt es innerhalb des Wahhabismus große Meinungsverschiedenheiten. Terroristische Organisationen wie Al-Qaida oder ISIS haben ihre Wurzeln in dieser Doktrin, werden aber mittlerweile vom wahhabitischen Königshaus bekämpft. Andererseits gehört auch der neue Direktor der multilateralen Islamischen Entwicklungsbank in Dschidda offiziell dem saudischen Königshaus an, steht aber eher für eine sehr gemäßigte und kooperative Wahhabitische Tradition. Die Bank arbeitet mit Krediten und entwickelt Islamic Finances. Die Kluft, die sich innerhalb Wahhabitischer Strömungen geöffnet hat, ist bemerkenswert.
Mich irritiert, wie wenig die westliche Öffentlichkeit über den Islam und seine verschiedenen Strömungen weiß. Viele Europäer haben Angst vor „dem“ Islam, nehmen aber gar nicht zur Kenntnis, dass islamistische Gewalt mehr Moslems als Christen das Leben kostet.
In der Tat sind heute uralte Ängste in Europa virulent, die mit der heutigen Welt nicht viel zu tun haben. In der Entwicklungspolitik legen wir deshalb zunehmend Wert auf „religious literacy“. Wer ins Ausland entsandt wird, nimmt vorher an einem entsprechenden Kurs teil. Früher lief das unter dem Schlagwort „interkulturelle Kompetenz“, aber angesichts der großen Bedeutung, die Religion in vielen Partnerländern hat, reicht das nicht. Religious literacy erfordert nicht nur ein Grundwissen über die andere Religionen und kulturelle Bedingtheiten, ihre Feiertage und heiligen Schriften. Nötig ist auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft. Wer sich auf ein anderes Weltbild einlassen soll, muss die Erfahrungen und Enttäuschungen mit Glaubenssätzen verstehen. Es gibt ja auch sehr unterschiedliche Verständnisse von Säkularität.
Ja, die Gründungsväter und -mütter der USA wollten Kirche und Staat trennen. Sie entschieden sich für Äquidistanz zu den verschiedenen Kirchen, damit der Glaube nicht von politischem Streit beeinträchtigt werden kann. Dagegen betrachteten Politiker wie Jawaharlal Nehru in Indien oder Atatürk in der Türkei den Glauben ihrer Landsleute als rückständig. Ihr Verständnis von Säkularismus lief auf Geringschätzung und Zurückdrängung der Religion hinaus.
Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist ohne die Trennung von Glaube und Staat gar nicht möglich. Der Münchner Kardinal und Vorsitzende der Katholischen Bischofskonferenz Reinhard Marx spricht deshalb zu Recht von den „Errungenschaften der Säkularität“. Selbstverständlich erfordert auch interreligiöser Austausch im Sinne der Äquidistanz eine säkulare Grundlage.
Was ist denn noch nötig, damit friedensbildender interreligiöser Dialog zustande kommt?
Es gibt drei Voraussetzungen:
- Nötig sind Moderatoren mit großer Religions- und Kulturkenntnis und hoher Glaubwürdigkeit, die von allen Beteiligten akzeptiert werden.
- Die Beteiligten selbst müssen den Dialog wollen. Der Impuls sollte am besten von ihnen ausgehen. Ein erfolgreicher Dialog erfordert Freiwilligkeit und kann nicht von außen aufgezwungen werden.
- Wenn Geberinstitutionen den Dialog fördern, müssen sie die Zügel loslassen. Die Sache geht schief, wenn sie eigenen Zielen und Vorstellungen Priorität geben.
Ist interreligiöser Dialog grundsätzlich auf einen Zweck wie Friedensbildung ausgerichtet?
Ohne Ziel findet in der Regel kein Dialog statt. Aus PaRD-Perspektive ist interreligiöser Dialog ein Instrument von mehreren, die wir nutzen, um das Potenzial der Religionen für die Erreichung der SDGs zu erschließen. Wir wollen Partner finden und mit ihnen zusammenarbeiten. Dabei behandeln wir viele unterschiedliche Themen mit unterschiedlichen Instrumenten. Das reicht vom Bildungs- und Gesundheitswesen über Gendergerechtigkeit bis hin zur ökologischen Nachhaltigkeit.
Ist es nicht Missbrauch, den Glauben für unmittelbar politische Zwecke zu instrumentalisieren?
Diese Kritik höre ich immer wieder, sie leuchtet mir aber nicht ein. Wir schaden dem Glauben oder den religiös motivierten Institutionen nicht, sondern beziehen uns auf ethische Normen, die in allen Religionen verankert sind. PaRD strebt die universellen Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 an, die von den Vereinten Nationen einstimmig akzeptiert wurden. Es geht darum, gemeinsam mehr zu erreichen. Was ist daran missbräuchlich?
Ulrich Nitschke leitet das PaRD-Sektretariat, das bei der GIZ in Bonn angesiedelt ist. PaRD steht für International Partnership on Religion and Sustainable Development. In diesem Interview vertritt er seine persönliche Meinung.
ulrich.nitschke@giz.de
Twitter: @nitschke_ulrich
http://www.partner-religion-development.org/