Afghanistan

Gebrochene Versprechen und Scheitern in Afghanistan

Die Haltung der USA und der internationalen Staatengemeinschaft war von vornherein ambivalent. Afghanistan sollte ein moderner Staat werden, aber ein „leichter Fußabdruck“ war erwünscht. Für entscheidend hält der Politikprofessor Paul D. Miller im Rückblick drei Fehler von zwei US-Präsidenten.
Der letzte US-Soldat in Kabul am 30. August 2021. US Army/picture-alliance/ZUMAPRESS Der letzte US-Soldat in Kabul am 30. August 2021.

Eine gängige Einschätzung lautet, der Versuch, einen modernen demokratischen Staat in Afghanistan zu schaffen, sei ein Fehler gewesen. Meiner Erinnerung nach war aber vor 20 Jahren Konsens, dass dies nötig war. Nach den Attacken auf New York und Washington vom 11. September 2001 sollte Afghanistan nie wieder Rückzugsort für Terroristen sein. Folglich durfte dort kein Machtvakuum entstehen.
Richtig, es gab keine Alternative. Das sagen ehemalige Mitarbeiter der Bush-Regierung weiterhin, und 2001/02 war das internationaler Konsens, auch in NATO und UN. Leider führte das nicht zu einer stimmigen State-building-Strategie, dabei ist diese Aufgabe komplex und erfordert viel Zeit. In­stitutionen müssen geschaffen werden und sich dann praktisch bewähren. Fachpersonal lässt sich nicht einfach kaufen. Beamte brauchen Ausbildung und Erfahrung, um Vertrauen zu gewinnen. Weder wir noch unsere Verbündeten gingen aber eine dauerhafte Verpflichtung ein.

Wurde denn ernsthaft versucht, einen modernen Staat zu schaffen?
Das änderte sich von Jahr zu Jahr. In den ersten fünf Jahren richtete sich die Aufmerksamkeit auf politischen Wiederaufbau mit Wahlen und der Verabschiedung einer Verfassung. Beides gelang recht gut. Die neue Verfassung beruhte auf der von 1964 und wurde von Volksvertretern aktualisiert, die das Land und seine Rechtsgeschichte kannten. Sie entsprach afghanischen Vorstellungen und wurde nicht vom Westen diktiert. Leider gab es kaum Anstrengungen, neue Infrastruktur zu schaffen, obwohl nicht nur Straßen, Krankenhäuser und Schulen, sondern auch Institutionen wie Gerichte und Kommunalverwaltungen dringend gebraucht wurden. Das änderte sich etwas zwischen 2007 und 2011, als Aufständische jedoch bereits Bodengewinne verbuchten. In dieser Phase gab es mehr Bemühungen um Justiz, ländliche Entwicklung oder kompetente Verwaltung. Es herrschte aber große Eile – und vielfach Vergeudung. Indessen eskalierte der Konflikt. Später bekamen fast nur noch Afghanistans Armee und Polizei internationale Unterstützung.

Haben die westlichen Alliierten Korruption bekämpft oder gefördert?
Beides trifft zu. Das Kernproblem war, dass sie zu schnell zu viel wollten – besonders in der eben erwähnten zweiten Phase. Plötzlich floss sehr viel Geld in ein institutionenloses und extrem armes Land, das kürzlich der schlimmste gescheiterte Staat weltweit gewesen war. Das führte zur Herrschaft des Geldes. Die illegale Drogenökonomie verschärfte die Lage. Der Opiumanbau nahm von 2006 an zu; um 2009 herum finanzierten sich Taliban dann damit. In das Drogengeschäft waren aber auch andere involviert. Dazu gehörten einflussreiche Akteure, die offiziell die Regierung unterstützten. Ende 2010 hatte sich dann eine destruktive Dynamik eingespielt. Aufstandsbekämpfung wurde zu Lasten des Wiederaufbaus immer wichtiger. Die US-Regierung glaubte nicht mehr an State-building, was ohnehin umso schwieriger wurde, je mehr die Gewalt um sich griff.

Wie konnte das alles derart schiefgehen?
Meiner Einschätzung nach machten zwei US-Präsidenten drei gravierende Fehler:

  • George W. Bush bestand von Anfang an auf einem „leichten Fußabdruck“. Er hatte sich früher ablehnend über Nation-building geäußert und sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hielt wenig davon, viele Soldaten auf Friedensmissionen zu schicken. Manchen NATO-Partnern behagte der Militäreinsatz in einem fernen Land nicht – Deutschland war ein prominentes Beispiel. UN-Spitzenleute zögerten wiederum, noch einmal Verantwortung für ein ganzes Land zu übernehmen, wie das in Kambodscha, Osttimor und Kosovo geschehen war. Allen gefiel der „leichte Fußabdruck“.
  • Der zweite Fehler war 2003 Bushs Irakkrieg. Er verschlang Ressourcen, die in Afghanistan nützlich gewesen wären, wo die Dinge zwar gut zu laufen schienen, was aber nicht der Fall war. Afghanistan bekam jedenfalls weniger Beachtung als Irak.
  • Den dritten großen Fehler machte Barack Obama. Er versprach für den Aufbau des Landes zu Recht einen größeren zivilen Einsatz, machte aber zugleich klar, dass er die Truppen abziehen wollte. Sein Zeitplan schadete dem State-building, das dauerhaftes, unbefristetes Engagement erfordert. Jeder hörte Obamas Ungeduld und handelte entsprechend. Das galt für die Taliban und unsere afghanischen Verbündeten. Die Siegeszuversicht der Taliban wuchs, und mit uns alliierte Afghanen hatten den Anreiz, schnellstmöglich viel Geld beiseitezuschaffen, ohne State-building sonderlich ernst zu nehmen.

Was die nächsten beiden Präsidenten angeht, kann ich weder Joe Bidens Abzug noch Donald Trumps Friedensverhandlungen etwas abgewinnen. Trump stellte den Taliban keine Forderungen und beteiligte unsere afghanischen Partner nicht. Entscheidende Fehler wurden aber vor Trumps oder Bidens Amtsantritt gemacht.

Welche Rolle spielten andere westliche Regierungen?
Im Grunde entschied Washington allein. Anfängliche Hoffnungen, Partner würden wirkungsvoll Verantwortung für bestimmte Aufgaben in Afghanistan übernehmen, wurden enttäuscht. Spätestens 2006 fand die Bush-Regierung, sie täten nicht genug. Das war nicht wirklich fair, denn sie tat selbst nicht genug.

Mich irritiert, dass westliche Spitzenpolitiker die illegale Drogenökonomie ignorierten, auf der bis zu 30 Prozent der afghanischen Wirtschaftsleistung beruhen. Das macht Rechtsstaatlichkeit unmöglich.
Es gab viele Vorschläge, um dieses Problem zu lösen. Es hieß, Safrananbau wäre eine Alternative. Andere meinten, die internationale Staatengemeinschaft solle die gesamte Opiumernte für die Produktion von medizinischen Morphium aufkaufen. Es wurden teils auch Mohnfelder vernichtet. Alles blieb aber sehr kleinteilig. Die Crux war, dass es ohne funktionierende Justiz unmöglich ist, illegale Drogen zu bekämpfen. Das gilt erst recht in einem Kriegsgebiet. Es ist wie mit Huhn und Ei. Ohne Frieden lassen sich weder Gerichte noch andere Institutionen schaffen und ohne Rechtssystem gibt es keinen Frieden.

Eine weitere Schätzung lautet, internationale Zuwendungen machten 50 Prozent der afghanischen Wirtschaftsleistung aus. Eigenständige Staatlichkeit sieht anders aus.
Sie dürfen nicht übersehen, dass der afghanische Staat jahrhundertelang von externer Förderung abhing – zunächst vom britischen Empire, später von der Sowjetunion. Die Regierung stützte sich auf ausländisches Geld, um die Loyalität örtlicher Potentaten zu kaufen. Dank diverser Kompromisse und Ausgleiche herrschte Frieden, was sich nach der sowjetischen Invasion 1979 änderte.

Vielfach wird das westliche Scheitern Afghanistans nun mit der „mittelalterlichen Mentalität“ der Menschen dort erklärt. Ich finde das herablassend und falsch. Das Problem ist, dass Kriegsherren die Gesellschaft dominieren – was auch im Mittelalter der Fall war. Menschen wollen überleben. Ob die Bewaffneten, die vor einem stehen, formal legitim sind oder nicht, ist zweitrangig. Wichtig ist, heil davonzukommen und die Familie versorgen zu können. Generell sind Traditionen im ländlichen Alltag von Entwicklungsländern wichtiger als formale Gesetzgebung – und in Konfliktsituationen besonders.
Die Sowjets haben die Sozialstrukturen Afghanistans zerstört – von Stammesnetzwerken über grundbesitzende Khans bis hin zu lokalen Mullahs. Erst wurden Kriegsherren wichtig und dann die Opiumwirtschaft. Die Staatengemeinschaft hätte nach 2001 keinerlei örtliches Machtvakuum zulassen dürfen. In solchen Nischen blieben Kriegsherren stark und die Taliban fassten wieder Fuß. Im Westen wissen alle, dass die Herrschaft der Taliban in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre brutal war. Vielen ist aber nicht klar, dass sie doch ein Mindestmaß an Ordnung durchsetzten, das offensichtlich sehr grob war. Sie unterbanden sogar ein Jahr lang den Opiumanbau, was aber nach Einschätzung vieler Beobachter wohl dazu diente, den Weltmarktpreis hochzutreiben. Wichtig ist jedenfalls, dass Afghanen nach vier Jahrzehnten Krieg erschöpft sind und sich Sicherheit wünschen. Manche glaubten, die Taliban könnten das liefern.

Afghanen fühlen sich auch vom Westen enttäuscht. Hätte die von den USA angeleitete Intervention mehr erreichen können?
Sowohl Bush als auch Obama versprachen in verbindlichen Abkommen mit afghanischen Regierungen langfristige Unterstützung. Mit mehr Geduld hätten wir sehr viel mehr erreichen können. State-building erfordert immer viel Zeit – und erst recht in einem sehr armen, kriegszerstörten Land. Die traurige Wahrheit ist, dass unsere Präsidenten die richtigen Worte fanden, aber nicht entsprechend handelten. Unsere afghanischen Partner verloren das Vertrauen und die Versprechen unserer Präsidenten wurden gebrochen.


Paul D. Miller ist Professor für die Praxis internationaler Beziehungen an der Georgetown University in Washington.
millerp1@georgetown.edu