Gendergerechtigkeit
NGO dokumentiert: Lage afghanischer Frauen verschlechtert sich weiter
Laut dem Global Gender Gap Index des Weltwirtschaftsforums ist Afghanistan seit Jahren das Land mit den schlechtesten Lebensbedingungen für Frauen. Die Taliban haben Frauen systematisch entrechtet und aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Frauen haben keinen Zugang zu Bildung, Arbeit und öffentlicher Teilhabe. Die radikal eingeschränkte Selbstbestimmung wirkt sich negativ auf ihre psychische und körperliche Gesundheit aus und verstärkt die zahlreichen Krisen im Land.
Dennoch gibt es Anzeichen bemerkenswerter Widerstandskraft. Einige Frauen leisten subtilen, aber tiefgreifenden Widerstand und streben nach „Hurriyya“ (Freiheit), indem sie trotz aller Hindernisse aus der häuslichen Enge ausbrechen.
Afghan Witness ist eine unabhängige Organisation afghanischer und internationaler Forscher*innen, die Informationen sammeln, überprüfen und dokumentieren. Das Projekt wird von der britischen Non-Profit-Organisation Centre for Information Resilience koordiniert und hat zuletzt den Bericht „The Erasure of Women“ („Die Auslöschung der Frauen“) veröffentlicht. Afghan Witness (AW) dokumentiert darin nicht nur die systematische Unterdrückung von Frauen, sondern auch die besorgniserregende Zunahme von Femiziden und anderen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt.
Nach ihrer Machtergreifung haben die Taliban die Bildungsmöglichkeiten für Frauen und Mädchen stark eingeschränkt. Seit 2022 dürfen Mädchen ab 12 Jahren keine Schulen und Frauen keine Hochschulen mehr besuchen. Kein anderes Land verhängt solch harte Restriktionen. AW schätzt, dass fast 80 Prozent aller afghanischen Mädchen und Frauen keinen Zugang mehr zur Bildung haben. In einigen Regionen ist es noch erlaubt, Gesundheits- oder Religionswissenschaften zu studieren.
Die Taliban haben Schulen geschlossen und Aktivist*innen verhaftet, die sich für die Bildung von Mädchen einsetzen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit für Frühehen und Ausbeutung im Haushalt. Nach Schätzungen von UN Women werden bis 2026 rund 1,1 Millionen Mädchen nicht zur Schule gehen dürfen, was zu 45 Prozent mehr Frühschwangerschaften führen und die Müttersterblichkeit um 50 Prozent ansteigen lassen werde.
Vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen
Zu den langfristigen Auswirkungen zählt auch zunehmende Armut, weil es Frauen an Erwerbsmöglichkeiten mangelt. Wie AW berichtet, wurden Frauen aus ihren Jobs gedrängt – sowohl im öffentlichen als auch im Privatsektor – und frauengeführte Unternehmen geschlossen. Begrenzte Jobmöglichkeiten für Frauen finden sich etwa noch im Gesundheitssektor. Die Autor*innen geben an, dass 2023 nur noch fünf Prozent der Arbeitnehmer*innen weiblich waren, gegenüber 16 Prozent im Jahr 2020. Die Abhängigkeit von Männern hat also weiter zugenommen, was Frauen anfälliger für Ausbeutung und Missbrauch macht.
Die Taliban haben darüber hinaus strikte Bekleidungsvorschriften erlassen und die Bewegungsfreiheit von Frauen eingeschränkt. In der Öffentlichkeit müssen sie Körper und Gesicht vollständig bedecken und dürfen Reisen von mehr als 45 Meilen (gut 70 Kilometer) nur in Begleitung eines männlichen Vormunds (Mahram) antreten. Bei einem Verstoß drohen schwere Strafen, darunter Gefängnis. AW berichtet, wie solche Repressalien das Patriarchat stärken und den Kampfgeist mancher afghanischen Frauen brechen.
Früher boten digitale und konventionelle Medien Plattformen für Protest und Aktivismus, doch die Taliban haben weibliche Stimmen zum Schweigen gebracht. Frauen dürfen nicht an Konferenzen teilnehmen, Regierungsvertreter interviewen oder live berichten. Laut AW waren 2023 knapp 94 Prozent der Journalistinnen arbeitslos. Auch zum Internet haben Frauen kaum noch Zugang – und wenn doch, sind sie dort zunehmend Opfer von Belästigung und Missbrauch. Viele politisch aktive Frauen entscheiden sich letztlich für Selbstzensur, weil sie immer häufiger angegriffen werden. Ein Hoffnungsschimmer bleibt jedoch: Einige Afghaninnen haben im Exil frauenspezifische Redaktionen gegründet, um weiterhin über die Lage von Frauen und queeren Personen in Afghanistan zu berichten.
Geschlechtsspezifische Gewalt
Geschlechtsspezifische Gewalt hat unter den Taliban stark zugenommen. Darauf weisen etliche Studien zu Femiziden und anderen Gewaltformen hin, darunter Zwangsheirat, sexualisierte Gewalt, häusliche Gewalt und Folter. Frauen erleben sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum Gewalt, und wenn sie gegen Vorschriften verstoßen, werden sie häufig willkürlich verhaftet und öffentlich bestraft.
AW hat nach eigenen Angaben zwischen Januar 2022 und Juni 2024 Berichte untersucht, denen zufolge mindestens 840 Frauen und Mädchen Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt wurden. Mindestens 332 von ihnen wurden getötet. Die Dunkelziffer dürfte noch höher sein, da viele Fälle aus Angst vor Vergeltung nicht gemeldet werden und es kaum noch Hilfsangebote für Opfer gibt. Überlebende können so kaum auf Gerechtigkeit hoffen.
Trotz der brutalen Unterdrückung leisten afghanische Frauen Widerstand, wo immer es ihnen möglich ist. Öffentliche Proteste sind nahezu unmöglich geworden, doch im Verborgenen kämpfen viele Frauen weiter, sei es in Form von geheimen Schulen, Bibliotheken oder Kosmetiksalons. Sie nehmen dafür hohe Risiken auf sich.
AW mahnt, die Diskriminierung durch die Taliban nicht zu normalisieren. Es gelte international die Anstrengungen zu verstärken, um geschlechterfokussierte Initiativen zu finanzieren, die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern und afghanische Frauen in ihrem Kampf für Freiheit und Würde zu unterstützen.
Link
Afghan Witness, 2024:
https://www.afghanwitness.org/reports/the-erasure-of-women
Khushboo Srivastava ist Politikwissenschaftlerin und Assistenzprofessorin am Tata Institute of Social Sciences in Mumbai.
krsrivastava29@gmail.com