Film
Gerechtigkeit für Vergewaltigungsopfer
Kiran ist 13 Jahre alt, als sie nach einer Hochzeitsfeier von drei Männern aus ihrem Dorf brutal vergewaltigt wird. Sie erzählt ihren Eltern davon, die umgehend Anzeige erstatten und die Täter vor Gericht anklagen lassen. Der Dokumentarfilm „To Kill a Tiger“ begleitet auf einfühlsame Weise den darauf folgenden emotionalen und juristischen Aufarbeitungsprozess.
Kirans Vater Ranjit ist Reisbauer im ostindischen Bundesstaat Jharkhand. Er arbeitet hart, um seiner Frau Jaganti und den sieben gemeinsamen Kindern ein möglichst gutes Leben zu bieten. Nichts ist Ranjit wichtiger als eine sichere, selbstbestimmte Zukunft für seine Nachkommen: „Sie sollen nicht so machtlos sein wie ich. Die Leute sollen sehen, dass ich ihnen trotz Armut eine gute Bildung und Werte vermittelt habe.“
Täter-Opfer-Umkehr und gesellschaftliche Stigmata
Deshalb setzt er sich vehement für seine Tochter ein, trotz enormen Drucks von außen. Die Dorfgemeinschaft möchte Kiran mit einem der Täter zwangsverheiraten und den Fall so „intern“ klären, anstatt ein unabhängiges Gericht entscheiden zu lassen. Ranjit wird zunehmend angefeindet und erhält Morddrohungen. In Gesprächen bedienen sich seine Nachbar*innen klassischer Narrative der Täter-Opfer-Umkehr: Kiran sei selbst schuld an der Vergewaltigung – was habe sie so spät überhaupt noch auf der Hochzeit zu suchen gehabt? Hätte Ranjit sie als Vater nicht besser schützen müssen?
Sexualisierte Gewalt ist in Indien – wie in sehr vielen Ländern – nach wie vor ein immenses Problem. 2022 zählte das nationale Kriminalamt 90 Anzeigen wegen Vergewaltigung pro Tag. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher ist. Die in den letzten Jahren verschärften Gesetze gegen Vergewaltigungen finden in der Realität nur selten Anwendung, auch weil Opfer noch immer mit gesellschaftlichen Stigmata und Schuldzuweisungen konfrontiert werden.
Ursprünglich sollte der Film die Frauenrechtsaktivist*innen porträtieren, die Kirans Familie unterstützen. Sie besuchten regelmäßig das Dorf und leisteten emotionalen wie rechtlichen Beistand. Während der Dreharbeiten entschied sich die kanadisch-indische Regisseurin Nisha Pahuja dann, den Fokus auf Kirans und Ranjits Geschichte zu legen.
Mit viel Einfühlungsvermögen und beeindruckenden Bildern gelingt es Pahuja, die Grauenhaftigkeit des Verbrechens, die Vielschichtigkeit seiner Nachwehen und die inneren Konflikte der Familie greifbar zu machen. Ranjit ist kein tollkühner Held, sondern hadert immer wieder mit sich und seiner Umwelt. Mehrmals scheint es, als würde er aufgeben. Ebenso wird Kiran nicht auf ihr Opferdasein reduziert. Ihre Aussage vor Gericht, für die sie sich dem tief sitzenden Trauma stellt, ist ein Akt der Selbstermächtigung.
Hoffnung auf Veränderung
Schlussendlich leistet sie damit den entscheidenden Beitrag zum richtungsweisenden Urteil, das die Angeklagten mit jeweils 25 Jahren Haft bestraft. Nach Angaben der Macher*innen des Films hat sich seither die Zahl der angezeigten Vergewaltigungen in der Region verdoppelt.
Somit macht der Film Hoffnung. Er demonstriert, wie funktionierende Institutionen und Gesetze langfristig zu mehr Geschlechtergerechtigkeit und gesellschaftlichem Wandel in Indien und darüber hinaus beitragen können. „To Kill a Tiger“ zeigt allerdings auch: Gerechtigkeit für Vergewaltigungsopfer ist nach wie vor keine Selbstverständlichkeit. Erforderlich dafür sind Menschen mit viel Mut und Durchhaltevermögen. Mitunter deshalb vergleicht Ranjit im Film den Weg zur Gerechtigkeit mit der Tötung eines Tigers.
Inzwischen ist Kiran, deren echter Name unerwähnt bleibt, volljährig und hat der Veröffentlichung des Films zugestimmt. Nach der Premiere 2022 erhielt „To Kill a Tiger“ mehrere Auszeichnungen bei internationalen Filmfestivals sowie eine Oscarnominierung in der Kategorie bester Dokumentarfilm. Im März 2024 sicherte sich Netflix die Rechte an der Dokumentation, die dort weltweit in verschiedenen Sprachen zu sehen ist.
Film
To Kill a Tiger. 2022, Kanada, 2 h 8 min, FSK 16. Regisseurin: Nisha Pahuja.
Konstantin Auwärter hat diesen Text im Rahmen seines Praktikums in der E+Z/D+C-Redaktion verfasst. Er studierte zu dieser Zeit Internationale Beziehungen und Kommunikationswissenschaft an der Universität Erfurt.
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