Frauenrechte

Geschlechtsspezifische Gewalt in Kolumbien angehen

Auch acht Jahre nach Abschluss des Friedensabkommens zwischen Regierung und FARC bleibt die kolumbianische Gesellschaft von Gewalt geprägt. Frauen und Mädchen leiden darunter besonders. Das soziale Unternehmen „Proyecto Florecer“ bietet Unterstützung an.
Proteste für die Rechte von Frauen während des Internationalen Frauentags im März in Bogotá. picture-alliance/ZUMAPRESS.com/Israel Fuguemann Proteste für die Rechte von Frauen während des Internationalen Frauentags im März in Bogotá.

Geschlechtsspezifische Gewalt hat in Kolumbien leider Tradition. Während des jahrzehntelangen Bürgerkriegs fielen mindestens 35 178 Menschen sexueller, geschlechtsbezogener und reproduktiver Gewalt zum Opfer. Zu letzterer zählt unter anderem die Beeinträchtigung der freien Entscheidung zu Schwangerschaft und Familienplanung. Veröffentlicht hat die Zahl die kolumbianische Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP – Jurisdicción Especial para la Paz), die unter anderem Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufarbeiten soll.

Frauen, Mädchen und Menschen mit diverser sexueller Orientierung traf es besonders schlimm. Zwischen 1957 und 2016, dem Jahr des Friedensabkommens zwischen der Regierung und der linken Guerillabewegung FARC, waren laut JEP knapp 90 Prozent der Opfer weiblich; 35 Prozent waren zum Zeitpunkt der Verbrechen noch Kinder oder Heranwachsende. Die Verbrechen verübten demnach sowohl rechte paramilitärische Gruppen als auch die FARC und Sicherheitskräfte.

Die JEP hat inzwischen offiziell anerkannt, dass sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt im kolumbianischen Bürgerkrieg gezielt als Waffe eingesetzt wurde. Sie leitete im September 2023 eine neue Untersuchung dazu ein.

Kolumbien weiterhin von Gewalt geprägt

Mit dem Friedensschluss ist die Gewalt keineswegs aus Kolumbien verschwunden. Stattdessen sei die Zahl an Misshandlungen durch bewaffnete Gruppen in vielen entlegenen Gegenden gestiegen und 
liege auf einem vergleichbaren Niveau wie kurz vor dem Friedensprozess, berichtet die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Geschlechtsspezifische Gewalt sei weit verbreitet, während Straftäter kaum zur Verantwortung gezogen würden, so HRW.

Das Friedensabkommen weckte bei vielen Kolumbianer*innen Hoffnungen auf eine friedlichere Zukunft. Doch die Übergangszeit war bislang von anhaltender Gewalt geprägt, insbesondere in ländlichen Gegenden. Tatsächlich ist Kolumbien eines der Länder, die weltweit am stärksten unter organisierter Kriminalität leiden. Der Handel mit Drogen, Waffen und auch Menschen blüht. Grenzüberschreitende Gewalt durch organisiertes Verbrechen ist ein großes Problem.

Die kolumbianische Gesellschaft ist geprägt von der Machismo-Kultur, die Frauen unterdrückt. Geschlechtsspezifische Gewalt ist weiterhin an der Tagesordnung. Im Jahr 2023 zählte das Projekt Observatorio Feminicidios Colombia, das von der zivilgesellschaftlichen Organisation Red Feminista Antimilitarista betrieben wird, insgesamt 525 Femizide in dem Land mit etwa 52 Millionen Einwohner*innen. Laut der zivilgesellschaftlichen Organisation The Advocates for Human Rights registrierte das Nationale Institut für Rechtsmedizin und forensische Wissenschaften 2022 mehr als 47 700 Fälle häuslicher Gewalt, 19 Prozent mehr als im Vorjahr. Noch dazu bleiben viele Fälle genderbasierter Gewalt unerkannt – aus Angst vor Rache oder Stigmatisierung oder weil die Betroffenen dem Justizsystem nicht trauen.

Proyecto Florecer

Angesichts der Ausmaße an Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Kolumbien ist es essenziell, dass Betroffene sich an kompetente Anlaufstellen wenden können. Eine davon ist Proyecto Florecer, was sich mit „Projekt Blüte“ übersetzen lässt. Wir sind ein soziales Unternehmen mit Sitz in Medellín, der Hauptstadt der Bergprovinz Antioquia. Zu unseren Hauptaufgaben gehört es, Bildungsangebote für die lokale Bevölkerung bereitzustellen und Möglichkeiten der Inklusion für Benachteiligte zu schaffen. Dafür arbeiten wir mit einer internationalen Community aus Freiwilligen zusammen.

Wer an unseren Programmen teilnimmt, hat in irgendeiner Form ein Trauma erlitten, sei es häusliche Gewalt, Vernachlässigung oder der Verlust wichtiger Bezugspersonen. Für Proyecto Florecer geht es deshalb darum, diese „survivors“ in ihren Bedürfnissen zu unterstützen. Wir bieten Workshops zur persönlichen Entfaltung an, beispielsweise zu den Themen Integration, Rassismus, sexuelle Gesundheit und Kommunikation. Insbesondere junge Frauen lernen hier, ihr Leben selbst zu gestalten und so für sich und andere Verantwortung zu übernehmen.

Frauen teilen ihre Erfahrungen

In unseren „Women’s Circles“ treffen sich zudem Frauen und Mädchen regelmäßig, um ihre Erfahrungen zu teilen und sich gegenseitig zu unterstützen. Hier geht es beispielsweise um gesunde und ungesunde Beziehungen, das Setzen von Grenzen, Selbstbewusstsein, Trauma und Resilienz.

Proyecto Florecer ist es aber auch wichtig, die sozialen Normen zu verändern, die geschlechtsspezifischer Gewalt zugrunde liegen. Wir möchten helfen, den Teufelskreis aus Armut, Arbeitslosigkeit und Diskriminierung in Kolumbien zu durchbrechen. Alle Frauen haben es verdient, ihr Leben selbstbewusst zu gestalten.

Angesichts der anhaltenden Gewalt und Unterdrückung von Frauen in Kolumbien ist der Weg zu echter Gleichstellung noch weit. Um geschlechtsspezifische Gewalt anzugehen, sind vielfältige Maßnahmen nötig. Es gilt, sowohl Frauen umfassende Hilfe zu bieten als auch die tiefer liegenden Gründe für die Missstände anzugehen. Beispielsweise ist es nötig, die Justiz zu stärken, um Straftäter konsequenter zur Rechenschaft zu ziehen. Qualitativ hochwertige Bildung für Frauen ist essenziell – aber auch Bildung von Männern in Bezug auf Frauenrechte und angemessenes Verhalten gegenüber Frauen.

Links

Proyecto Florecer:
https://proyectoflorecer.org

Human Rights Watch, Colombia, Events of 2023:
https://www.hrw.org/world-report/2024/country-chapters/colombia

Giovanni Puglisi ist Journalist, Gründer und Medienberater bei Proyecto Florecer. Er hat einen Masterabschluss von der London School of Economics.
giovanni.puglisi@alumni.lse.ac.uk