Interview
„Dies ist der Übergang vom Krieg zum Frieden“
Wie kamen Sie dazu, sich für den Frieden zu engagieren?
Nachdem ich als Lehrerin ausgebildet war, kehrte ich aus der Hauptstadt Bogotá zurück in mein Heimatdorf in der Region Putumayo. Meine Tochter wurde geboren, aber als sie ein kleines Kind war, erkrankte sie aufgrund einer abgelaufenen Impfung schwer und blieb halbseitig gelähmt. In unserer Gegend war die Gesundheitsversorgung sehr schlecht. Ich begann, mich für bessere Lebensbedingungen einzusetzen, damit so etwas keinem anderen Kind mehr passieren würde. Es gab in unserem kleinen Ort Puerto Caicedo eine politische Gruppe, die sich mit Frieden und Gerechtigkeit beschäftigte, unter Führung des – später ermordeten – Pfarrers Alcides Jiménez Chicangana. Dort ging ich hin und engagierte mich.
Warum haben Sie sich der feministischen Organisation „Ruta Pacífica de las Mujeres“ angeschlossen?
Mein Beruf ist Lehrerin, aber aus Überzeugung bin ich Kämpferin für die Menschenrechte. 1996 gab es einen ersten Marsch von Frauen für den Frieden, im Norden des Landes; dies war der Anfang der Organisation „Ruta Pacífica de las Mujeres“. 1997 organisierten wir zusammen mit Pater Jiménez bei uns im Süden ein regionales Frauentreffen. Das schien mir ein guter Weg zu sein, um für Menschenrechte, aber auch für Frauenrechte einzutreten. Seitdem, also seit 20 Jahren, bin ich Koordinatorin dieser Organisation in der Region Putumayo.
Wie setzt sich Ruta Pacífica für den Frieden ein?
Der komplette Name unserer Organisation lautet: „Ruta pacífica de las mujeres por la trámitación política de los conflictos en Colombia y la visibilisación de las violencias contra las mujeres“ („Der friedliche Weg der Frauen für die politische Bearbeitung der Konflikte in Kolumbien und der Sichtbarmachung der Gewalt gegen Frauen“). Der Name ist auch Programm. Die Friedensarbeit läuft bei uns folgendermaßen:
- Vorfall,
- Untersuchung,
- Volksbildung, formell und informell,
- Mobilisierung,
- Wissensproduktion und
- Empowerment von Frauen, Anführerinnen und ihren Organisationen.
Alles läuft nach den Prinzipien Feminismus, Pazifismus, Antimilitarismus, Gewaltfreiheit und Dialog.
Sind Sie oder Ihre Organisation je bedroht worden?
Es gibt viele Leute, die gegen den Frieden sind. Alle unsere Leiterinnen sind bedroht worden. Mich haben die Paramilitärs permanent verfolgt und bedrängt. 2009 sind sie in mein Haus eingedrungen und haben um sich geschossen, einen Nachbarn getötet und meinen Schwager verletzt. Ich war zufällig an diesem Tag nicht zu Hause. Ein anderes Mal hat eine paramilitärische Gruppe einen meiner Brüder entführt. Ich habe ihn in den Bergen gesucht und zum Glück lebend gefunden. Viele Frauen wurden ermordet; andere haben sich aus Angst aus der Bewegung zurückgezogen. Wir haben auch eine Radiosendung namens „Mujer, Caminos y Futuro“ (Frau, Wege und Zukunft), und wir wurden öfters bedrängt, diese Sendung aufzugeben. Eine andere Bedrohung für die Landbevölkerung sind die Antipersonenminen, Munitionsdepots und improvisierte Sprengvorrichtungen, die sich nach wie vor allerorts im Boden befinden.
Wie haben Sie in Ihrem Dorf den bewaffneten Konflikt erlebt?
Es war schrecklich. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung wurde vertrieben. Menschen verschwanden reihenweise, vor allem Frauen. Wir haben Drohungen erlebt, Vergewaltigungen, Massaker, willkürliche Verhaftungen, Machtkämpfe zwischen verschiedenen bewaffneten Gruppen und Drogenterrorismus. Der Staat war überhaupt nicht präsent und wenn, nur indem unsere Äcker aus der Luft mit Glyphosat besprüht wurden, angeblich um Cocapflanzen zu vernichten. Die Paramilitärs zwangen junge Mädchen aus dem Dorf zur Prostitution. Eine Freundin von mir wurde ermordet und ihre Genitalien verstümmelt. Einer indianischen Frau schnitten die Paramilitärs die Zunge ab und töteten sie dann. Oft wurde den Angehörigen nicht erlaubt, die Leichen zu holen und christlich zu begraben. Sogar unser Pfarrer Alcides Jiménez Chicangana wurde 1998 ermordet, während er die Messe zelebrierte.
Haben in dieser Gegend die Menschen für den Frieden gestimmt?
Die große Mehrheit ja.
Was erwartet die Landbevölkerung nun?
Dass sowohl die Regierung als auch die Guerilla sich an die Abmachungen halten. Angst und Misstrauen sind noch stark. Die Institutionen sind noch nicht auf die Post-Konflikt-Zeit vorbereitet. Die große Mehrheit der ehemaligen FARC-Guerilleros unterstützt aber den Friedensprozess.
Wie können denn Menschen friedlich zusammenleben, die sich noch bis vor kurzem umbringen wollten?
Das ist eine gute Frage! Die Antwort liegt in der Vergebung als zentraler Säule für die Versöhnung. Wir brauchen auch Strategien für eine Friedenspädagogik und vertrauensbildende Maßnahmen.
Wie läuft die Entwaffnung?
Dies ist nicht einfach, aber auch nicht unmöglich. Die Regierung muss sich an die Abmachungen halten und die Reintegration der Kämpfer ins zivile Leben schützen. Eine Begnadigung könnte den ehemaligen FARC-Guerilleros Sicherheit geben. Aber ihre Waffen müssen sie natürlich abgeben.
Wo sehen Sie die Schwierigkeiten?
Die Umsetzung muss möglichst bald beginnen, mit ausreichend finanziellen Mitteln. Sie sollte in den Händen der Communities bleiben, und diese müssen gut darauf vorbereitet werden. Das Vertrauen der Bevölkerung muss gewonnen werden. Es gibt jedoch verschiedene Hindernisse, zum Beispiel dass bald Wahlen auf uns zukommen, und generell ein hohes Maß an Korruption, patriarchale Verhältnisse, große soziale Ungleichheit und eine Wirtschaftskrise.
Wie kann neues Vertrauen in den Staat und die Justiz hergestellt werden?
Es ist möglich, wenn der Staat wirklich mit den Communities zusammenarbeitet und gemeinsame Strategien für soziale Entwicklung plant. Bei der Umsetzung des Friedensprozesses muss die Bevölkerung informiert bleiben. Bezüglich der Justiz muss es einen Prozess der Übergangsjustiz geben sowie eine „Reinigung“ des Justizapparates.
Ist es möglich, sich in einem Dorf zu versöhnen, wo jeder weiß, wer wen getötet hat?
Ja, vorausgesetzt, dass ehrlich mit der Wahrheit umgegangen wird, dass es Gerechtigkeit gibt, Reparationen und die Garantie, dass dies nie wieder passiert. Wir benötigen Schulungen für Versöhnung und Aktionen der Erinnerung, damit nicht alles vergessen wird und Straflosigkeit regiert.
Was erwarten Sie persönlich vom Frieden?
Dass die Menschen wieder in Würde leben können und dass ich hier in meinem geliebten Heimatort ohne Angst wohnen kann – ich und alle anderen Frauen auch.
Ist dies das endgültige Ende des Krieges?
Man muss sich klarmachen, dass der Friedensvertrag nur den Übergang vom Krieg zum Frieden einläutet. Frieden ist eine kollektive Anstrengung, ein Recht und eine Pflicht für alle. Dafür werde ich weiter arbeiten.
Wie sieht die junge Generation die Zukunft?
Die jungen Leute sehen sich nicht als Zukunft, sondern betrachten sich als die Gegenwart des Landes. Sie fordern aktive Beteiligung am Friedensprozess. Die Studenten- und Jugendbewegungen sind diesbezüglich sehr aktiv. Im Dezember 2016 fand ein nationales Treffen in der Stadt Medellín statt, wo eine Jugendagenda für den Frieden in Kolumbien ausgearbeitet wurde. Meine Tochter, die inzwischen Studentin ist, nahm auch daran teil. Das hat mich sehr gefreut!
Amanda Lucía Camilo Ibarra ist Koordinatorin der zivilgesellschaftlichen Friedensorganisation “Ruta Pacífica Putumayo”. Sie lebt in Puerto Caicedo, Putumayo, Kolumbien.
rutaputumayo@rutapacifica.org.co
http://rutapacifica.org.co/