Mentale Gesundheit
Stärkung der mentalen Gesundheit möglich
In Guatemala beendete ein Friedensvertrag 1996 einen langen, blutigen Bürgerkrieg, der die Bevölkerung tief traumatisierte. Das Militär hatte Anfang der 1980er Jahre vor allem im Norden systematisch Dörfer vernichtet und die Einwohner massakriert. Hunderttausende Menschen wurden ermordet, sind verschwunden oder vertrieben. Die überwiegend an der indigenen Bevölkerung begangenen Verbrechen wurden als Akte des Völkermords eingestuft. Wie wurden diese Gräueltaten bisher aufgearbeitet?
Es gab zwei Wahrheitskommissionen, die sehr wichtig waren, um die Gräueltaten zu dokumentieren und Ursachen des Krieges zu analysieren, aber wirklich aufgearbeitet wurde kaum etwas. Viele damalige Täter sind weiter unbehelligt im Amt. Der Staat sollte eigentlich die Aufarbeitung übernehmen, wird aber seiner Verantwortung nicht gerecht. Der Frieden änderte wenig an der strukturellen Gewalt im Lande. Die Ursachen des Krieges sind weiter gültig, die extreme Ungleichverteilung von Einkommen, Bodenbesitz und Zugang zu Bildung und Gesundheit, aber auch die Willkür und Korruption. Die kleine Elite des Landes ist vor allem am Erhalt ihrer Privilegien interessiert und deshalb nicht an der Aufarbeitung der grausamen Vergangenheit und einer Veränderung der Verhältnisse. Gerade jetzt gibt es wieder einen enormen Rückschritt.
Was sind die Folgen von nicht aufgearbeiteter Vergangenheit und Traumata?
Erst einmal muss gesagt werden, dass diese Arbeit in Guatemala vor allem von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Betroffenen geleistet wurde. So wurde zum Beispiel 1996 die nichtstaatliche Organisation (non-governmental organisation NGO) ECAP gegründet, die sich um Vergangenheitsbewältigung bemüht und kollektive und individuelle Traumata sowie Folgen von Gewalt bearbeitet. Mit dieser NGO arbeite ich seit Jahren. ECAP und auch andere sprechen von einer Kontinuität der Gewalt, die sich in immer neuen Formen ausdrückt. Kriege entstehen nicht im luftleeren Raum, das wissen wir aus vielen Ländern. Die vorhandene Traumatisierung bietet den Nährboden für die soziale Reproduktion von Gewalt. Angst verbreitet sich, paralysiert und führt wieder zu Angst. Es kommt zu Misstrauen, Bindungsunfähigkeit und Apathie. Das so geprägte soziale und politische Leben macht Wandel beinah unmöglich.
Wie äußert sich das in Guatemala?
Gewalt und Missbrauch sind weitverbreitet, es gibt Drogen- und Menschenhandel, Bandenkriminalität, Morde an Frauen und Schutzgelderpressungen sind gerade im städtischen Bereich an der Tagesordnung. Die normale Bevölkerung lebt in Armut, ein Großteil der Kinder ist unterernährt. Der Staat zieht sich immer weiter zurück. Am stärksten ist die indigene Landbevölkerung von wirtschaftlicher und sozialer Marginalisierung betroffen. Für eine Verbesserung der Situation wären unglaublich viele Maßnahmen nötig: Erst einmal braucht der Staat Geld, und direkte Steuern zahlt im Lande nur eine Minderheit. Gelder für öffentliche Ausgaben sind daher knapp und fallen häufig der Korruption anheim. Die Menschen fühlen sich missbraucht und alleingelassen. Um der Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit zu entkommen, haben bereits Hunderttausende das Land in Richtung USA verlassen.
Wie muss aus Ihrer Perspektive damit umgegangen werden?
Wir müssen auf vielen Ebenen etwas tun, und die Aufarbeitung der Vergangenheit und Wiedergutmachung für die Betroffenen sind wichtige Voraussetzungen. Es ist absolut vonnöten, die Gräueltaten aufzuklären und zugleich geschichtlich zu erfassen, welchen Verwerfungen die Gesellschaft in dieser Phase bis heute ausgesetzt war und ist. Lateinamerika ist voll von Wahrheitskommissionen, in Guatemala gab es gar zwei davon, eine unter Leitung des deutschen Professors Christian Tomuschat. Diese Kommissionen haben aber natürlich nichts an den ökonomischen Verhältnissen geändert, und es gab auch keine politische Veränderung. Darum trifft man sehr viel Resignation und Frustration an.
Wie sollte eine Aufarbeitung konkret aussehen?
Die Vergangenheit kann nicht von der Gegenwart getrennt werden. Eine grundlegende Aufarbeitung fängt für mich natürlich bei der Erziehung an. Die Erinnerungsarbeit in den Schulen ist eine grundlegende Maßnahme, das wissen wir aus Deutschland mit seiner Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und dem Zweiten Weltkrieg. Diese Erinnerungsarbeit ist essenziell, denn die Geschichte holt einen immer ein. Ich finde, Deutschland hat das besser als viele andere gemacht, denn so konnte das Thema als Mahnung für die Zukunft in der Gesellschaft lebendig gehalten werden. Dabei gilt es auch, diese Erinnerung mit dem Alltag der Menschen verbinden zu können, ihnen zu zeigen, wie sehr sie das heute noch berührt.
Sie haben beschrieben, was kollektive Traumata mit Gesellschaften machen. Wie wirken sich Traumata auf das Individuum aus?
Nicht aufgearbeitete Traumata können viele Folgen nach sich ziehen. Oft bedeuten sie einen Zustand von permanentem Stress, was bedeutet, dass sich der Körper in ständiger Alarmbereitschaft befindet. Dieser Zustand raubt dir die normale Funktion. Das führt wiederum oft zu einer ganzen Reihe von Symptomen. Die Betroffenen haben Angstzustände, Schlaflosigkeit oder Albträume. Das kann man auch bei Leuten beobachten, die politisch verfolgt werden. Ich arbeite mit solchen Menschen, und viele von ihnen haben chronische Krankheiten entwickelt, wie Magenbeschwerden, chronische Verspannung, rhythmische Störungen, neuropathische Schmerzen und sogar Diabetes. Bei Kindern können nichtaufgearbeitete Traumata zu Lern- und Konzentrationsproblemen führen, und chronischer Stress macht sie teils hyperaktiv. Und wie man heute weiß, können auch Organe und sogar das Gehirn permanent geschädigt werden.
Gibt es Heilung für diese Leiden?
Es ist ein langfristiger und vielfältiger Prozess, der über die psychosoziale Begleitung hinausgeht. Er kann mehrere Jahre dauern. Wir beobachten aber, dass Menschen ruhiger und reflexiver werden, wenn sie in geschützten Räumen gehört werden. In sehr vielen Fällen gelingt es ihnen dann, Beziehungen wieder aufzunehmen, soziale Netzwerke zu konstruieren, mit weniger Angst und Stress zu leben und ihr jeweiliges Lebensprojekt wiederaufzunehmen. Dabei werden sie sich bewusst, über welche Ressourcen sie selbst verfügen, um die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Wenn das nicht passiert, dann führen neue traumatische Erlebnisse in dieser zerrissenen Gesellschaft zu dem, was wir Retraumatisierung nennen. Wir arbeiten vielfach in Gruppen und vermitteln ihnen, dass es Menschen gibt, denen sie vertrauen können. Sehr wichtig ist auch, dass wir über das sprechen, was in der Gruppe los ist, über Konflikte und einfache Störungen. Dieses Vorgehen, das wir psychosoziale Supervision nennen, ist in Guatemala revolutionär.
Warum?
Weil in einem Land wie Guatemala nicht über Konflikte geredet wird. Das gilt als problematisch oder gefährlich. Doch wenn Konflikte nicht ausgesprochen werden, dann können sich diese nicht entladen und verwandeln sich in neue Formen von Gewalt. Die Konfliktscheuheit hat eine unglaublich destruktive Wirkung, ebenso die Unfähigkeit, mit Gefühlen umzugehen. Das muss man lernen. Darum reden wir in der Gruppe auch darüber, wie man Gefühle wie zum Beispiel Wut, Hass oder Rachegelüste erkennt, sie ausdrückt und damit umgeht. Vergessen wir nicht, dass ein angemessener Umgang mit Konflikten unabdingbar ist, um Veränderungsprozesse zu ermöglichen.
Wie erreichen Sie die Betroffenen?
ECAP arbeitet mit Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen in Guatemala. Wir betreuen Aktivisten, Menschenrechtler, Richter und Staatsanwälte – darunter viele Frauen – , auch Menschen die im Umfeld der UNO-Kommission CICIG tätig waren. Die Kommission hatte die Aufgabe, schwere Korruptionsfälle der Gegenwart aufzuarbeiten, die von Personen und Institutionen im Staat ausgeführt wurden. Das sind im Prinzip organisierte Verbrechen mit Hilfe des Staates, deren Strukturen sich bis in die Vergangenheit des Krieges verfolgen lassen. Die Kommission war sehr erfolgreich. Als sie neben dem Militär aber wegen ihrer systematischen Steuerhinterziehung auch auf die ökonomischen Eliten abzielte, wurde sie nach 13 Jahren erfolgreicher Arbeit 2019 des Landes verwiesen. Das war ein frontaler Angriff gegen viele Geberländer und sogar die UNO. Viele Anwälte und auch Staatsanwälte wurden offen bedroht und sind seit dem Ende der Kommission vor zwei Jahren ins Exil gegangen, weil sie politisch verfolgt wurden. Um diese Menschen kümmern wir uns jetzt. Wir begleiten auch Journalisten im Land und unterstützen sie dabei, unter diesen Verhältnissen arbeitsfähig zu bleiben.
Zum Schluss noch ein ganz anderes, aber leider aktuelles Thema. Wie kann den Menschen in der Ukraine geholfen werden?
Es ist wichtig, die psychologische Begleitung bereits jetzt zu beginnen, mitten in den Wirren des Krieges. Dafür müssen konkrete Hilfsangebote organisiert werden. Damit kann man dann oftmals verhindern, dass erste traumatische Erfahrungen zu dauerhaften Traumata werden. Die Menschen müssen die Möglichkeit bekommen, über das Erlebte zu reden und Wege zu finden, es aufzuarbeiten. Das muss in der Ukraine selbst geschehen, aber auch in Deutschland, wohin viele Ukrainer mit ihren Kindern geflüchtet sind. Wir wissen heute, wie wichtig es ist, über das Erlebte zu reden und Grundlagen für psychische Gesundheit zu schaffen. In diesem Zusammenhang möchte ich an die geschützten Räume erinnern, die ich oben als wichtige Voraussetzung schon erwähnt habe.
Kann der Krieg auch für uns als „Zuschauer“ psychische Folgen haben?
Bei den Personen, die andere traumatisierte Menschen begleiten, können die Erzählungen der Betroffenen eine sogenannte sekundäre Traumatisierung auslösen, wenn nicht auch sie begleitet werden. Aber hier wird es kompliziert. Das gilt auch für Menschen, die sich tagtäglich mit den Gräueltaten des Krieges konfrontieren und sich davon nicht mehr abgrenzen. Wir wissen, welche Macht Bilder haben können. Wir leben heute in Zeiten der Vulnerabilität. Gerade noch erlebten wir die Folgen der Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Maßnahmen, wie zum Beispiel eine nie gekannte soziale Isolation. Das ist ein Nährboden für weitere Traumata. Wenn ich keine Bindungen oder kein soziales Umfeld mehr habe, um dies zu kompensieren, können die Kriegsbilder mehr Schaden anrichten.
Vilma Duque ist Psychologin, spezialisiert auf Sozialpsychologie und Supervision, die sich vor allem mit Traumata-Arbeit in Nachkriegsgesellschaften beschäftigt. Ihre Arbeit in Guatemala und Mexiko wurde viele Jahre von Brot für die Welt finanziert. Sie ist Mitherausgeberin des Buchs „Supervision in Mesoamerika. Herausforderungen in einer traumatisierten Postkonfliktgesellschaft“. Gießen, Psychosozial-Verlag, 2020.
duquevilma@yahoo.de