Protestbewegungen
Arabellion reloaded
Die Bilder gleichen sich. Wie vor acht Jahren ziehen in der arabischen Welt überwiegend junge Menschen in großer Zahl durch die Straßen und fordern ihr Recht auf ein würdiges Leben ein. Schon zuvor flammten in Abständen Massenproteste in der Region auf. Doch erstmals seit 2011 handelt es sich wieder um eine Serie. Sie begann im Dezember 2018 im Sudan mit zunächst lokalen Protesten gegen die Verdreifachung des Brotpreises, die sich zu landesweiten Demonstrationen ausweiteten und zum Sturz des drei Jahrzehnte lang herrschenden Diktators Omar al-Bashir führten.
Im Februar 2019 erhoben sich in Algerien Zehntausende, als der greise und für das Amt längst untaugliche Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika seine Kandidatur für eine fünfte Amtszeit ankündigte. Auch er wurde weggefegt.
Im September 2019 lösten in Ägypten Informationen über die maßlose Bereicherung der Präsidentenfamilie große Demonstrationen aus.
Im Oktober 2019 war im Libanon die Einführung einer Steuer auf internetbasierte Telefonate der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und die Menschen auf die Straße trieb. Und seit Anfang Oktober 2019 protestieren die Menschen im Irak massenhaft gegen ihre prekären Lebensbedingungen. Ende November trat Premier Adel Abdul Mahdi zurück.
Im Iran, dem nichtarabischen Nachbarland Iraks, gingen derweil ebenfalls Massen auf die Straße – aus Wut über die teuren Spritpreise. Unter den US-Sanktionen hat sich die Versorgungslage der Bevölkerung drastisch verschlechtert. Die Demonstranten lasten diese leidvolle Entwicklung nun auch dem eigenen Regime an.
Ähnlich wie 2011 entzündeten sich die aktuellen Proteste vor allem an den sozialen Missständen, um sich bald schon gegen das gesamte politische System zu richten. Die Machthaber wiederum antworten mit einer Mischung aus brutaler Gewalt und halbherzigen Zugeständnissen.
Die betroffenen Länder haben größtenteils Bürgerkriege hinter sich, befinden sich in einer Phase wirtschaftlicher Schwäche und unterliegen dem Einfluss externer Mächte. Ihre fiskalischen Spielräume sind gering, da die Wirtschaft kaum wächst, der öffentliche Sektor überdimensioniert und ineffizient und der Staat hoch verschuldet ist (besonders in Libanon und Sudan). Die Regierungen versuchen kurzfristig ihre Handlungsfähigkeit wiederherzustellen, indem sie überfällige staatliche Investitionen hinauszögern und Sozialleistungen einschränken.
Da sich auch private, insbesondere ausländische Unternehmen mit Investitionen zurückhalten, wächst unter dem steten demographischen Druck das Heer der Arbeitslosen. Besondere Sprengkraft liegt in der immensen Jugendarbeitslosigkeit, die in allen Ländern der Region laut dem Internationalen Währungsfonds konstant bei 25 bis 30 Prozent und höher liegt. So strömen jedes Jahr im Irak eine halbe Million junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Fehlende Beschäftigungsperspektiven bei zugleich sich verschlechternder Versorgung mit Wasser, Strom und anderen öffentlichen Dienstleistungen schaffen ein Klima sozialer Spannung, die sich rasch entladen kann.
In einem Umfeld fragiler Staatlichkeit ist die Zuspitzung sozialer Missstände besonders risikoreich. Dies gilt besonders für den Irak und Libanon, nicht nur aufgrund ihrer Nachbarschaft zum Bürgerkriegsland Syrien, sondern auch, weil beide Länder konfessionell gespalten sind.
Während im Irak seit dem US-amerikanischen Einmarsch im Jahre 2003 Schiiten die Regierung dominieren, ist die schiitische Hisbollah in Libanon ein Staat im Staate. Hier wie dort unterstützt der Iran die der eigenen Glaubensrichtung angehörenden schiitischen Organisationen und Milizen, wohingegen Saudi-Arabien Irans sunnitische Gegner finanziert (siehe Maysam Behravesh im E+Z/D+C e-Paper 2019/10, Schwerpunkt).
Vor diesem Hintergrund stellt es eine Zäsur dar, dass sowohl im Irak als auch in Libanon Schiiten gemeinsam mit Sunniten und (im Libanon) Christen auf die Straße gehen und das politische Establishment herausfordern. Die Überwindung konfessioneller Schranken ist ermutigend. Gleichwohl weckt die gewaltsame Reaktion der Sicherheitskräfte im Irak, wo es bis Redaktionsschluss Mitte November 2019 schon zu rund 300 Toten kam, schlimme Erinnerungen an die Niederschlagung der Proteste in Syrien im Jahre 2012.
Im Libanon ist es bislang weitgehend friedlich geblieben. Wie sich die radikal-schiitische Miliz Hisbollah jedoch fortan in diesem Konflikt verhalten wird und welche Auswirkungen die Massenproteste auf die Stellung der beiden Regionalmächte Iran und Saudi-Arabien haben, bleibt abzuwarten.
Im Nahen Osten und Nordafrika ereignen sich 45 Prozent aller weltweiten Terroranschläge. Dort befinden sich 47 Prozent aller Binnenflüchtlinge und 57 Prozent aller Flüchtlinge, die ihr Heimatland verlassen müssen. Diese Region wird erst dann wieder zu Frieden und Entwicklung zurückfinden, wenn die soziale Frage gelöst ist.
Hierzu müssen die strukturellen Entwicklungshemmnisse, insbesondere die mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit, die verkrustete öffentliche Verwaltung sowie die fehlende wirtschaftliche und soziale Teilhabe der Bevölkerung überwunden werden. Die EU sollte hierzu einen Beitrag leisten. Dabei geht es nicht nur um die Intensivierung der Entwicklungszusammenarbeit, sondern vor allem darum, die die Handelsbeziehungen mit den Ländern der Region auf eine faire Grundlage zu stellen.
Die zweite Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung im Nahen Osten ist die Befriedung des Konflikts zwischen Saudi-Arabien und Iran. Dies wird nicht durch den wachsenden Druck auf den Iran gelingen, sondern nur im Rahmen einer umfassenden regionalen Friedenstrategie, die den Interessen aller Beteiligten Rechnung trägt.
Europa muss sich aus der Erstarrung des empörten Zuschauers lösen und innerhalb der internationalen Gemeinschaft entsprechende außenpolitische Impulse setzen. Nur so kann es gelingen, eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung im Nahen Osten und Nordafrika zu ermöglichen.
Nassir Djafari ist Ökonom und freier Autor.
nassir.djafari@gmx.de