Sommer-Special
Kampf gegen veraltete Traditionen
Stolz nimmt die 14-jährige Hirut ihr Zeugnis entgegen. Der Lehrer hat sie vor allen Schülern gelobt. Glücklich hüpft sie über die Felder, als sie hinter sich Hufgetrappel hört. Bewaffnete Männer auf Pferden umkreisen und entführen das 14-jährige Mädchen. Achtlos flattert das Zeugnis auf den Boden.
Hirut wird in einen Stall gesperrt, wo ihr Entführer sie vergewaltigt. Der Tradition zufolge droht dem Vergewaltiger keine Strafe, wenn er sein Opfer heiratet. Das heißt „Telefa“ und ist offiziell zwar verboten, aber im ländlichen Raum vielfach noch üblich.
Hirut gelingt die Flucht, sie nimmt das Gewehr ihres Peinigers mit. Er rennt ihr hinterher, und sie erschießt ihn. Daraufhin wird sie wegen Mordes angeklagt. Hirut droht die Todesstrafe.
Die Anwältin Meaza Ashenafi übernimmt Hiruts Verteidigung. Ihre unabhängige Organisation Andenet kämpft für die Rechte von Frauen und Kindern. Der Film ist kein pathetisches Gerichtsdrama, sondern beleuchtet sensibel die familiären und sozialen Hintergründe. Der Kontrast zwischen Stadt und Land ist scharf. In der Hauptstadt Addis Abeba arbeiten Akademiker mit PC und Telefon. In den idyllisch anmutenden Dörfern hingegen scheint die Zeit stillzustehen.
Recht sprechen hier nicht Richter, sondern der Ältestenrat. Als Hiruts Vater seine Tochter vor diesem Gremium verteidigt, betonen Männer aus dem Dorf die Tradition und beschimpfen den örtlichen Lehrer, der Kindern die falschen Werte vermittelt. Der Ältestenrat beschließt, dass Hiruts Vater dem Vater des Getöteten eine Entschädigung zahlen muss und das Mädchen nicht mehr im Dorf leben darf. Immerhin beschließt er nicht, dass sie sterben soll.
Die Anwältin findet unterdessen für Hirut einen Platz in einem städtischen Kinderheim. Zeitweilig steht die Existenz ihrer NGO auf dem Spiel. Sie klagt nämlich im Zuge des Verfahrens auch einen Minister an, weil dessen Verwaltung sich nicht ans Gesetz hält. Im Gegenzug hebt die Regierung ihre NGO-Lizenz auf, nimmt diese Entscheidung aber überraschend wieder zurück. Am Schluss spricht die staatliche Justiz Hirut frei, worüber die Medien – wichtig ist vor allem das Radio – ausführlich berichten. Ein perfektes Happy End gibt es aber nicht, denn der Teenager bleibt entwurzelt.
„Das Mädchen Hirut“ beruht auf einem Präzedenzfall, der 1996 definitiv klarstellte, dass die Telefa-Tradition nicht nur formal illegal ist. Das war ein wichtiger Wendepunkt für die Frauenrechte auf dem Land. Seitdem kann die Telefa mit 15 Jahren Haft oder mehr bestraft werden. In abgelegenen ländlichen Regionen ist die Tradition allerdings bis heute nicht gänzlich abgeschafft.
Entsprechend will der Regisseur mit dem Film seine Landsleute aufklären und überzeugen. Er behandelt alle Personen mit Respekt und lässt sie klar aussprechen, was sie für richtig oder falsch halten. Künstlerische Vieldeutigkeit bedeutet ihm weniger als dokumentarische Eindeutigkeit und diskursive Vollständigkeit.
Mehari hat in Los Angeles Film studiert, nutzt aber keine Hollywood-Methoden. Er verzichtet auf reißerische Szenen. Sein Ziel ist nicht packende Unterhaltung, er will Zuschauer – vor allem in Äthiopien – für seine Sicht gewinnen. Es war ihm wichtig, den Film nicht auf Englisch, sondern auf Amharisch zu drehen, damit sein Werk in seiner Heimat etwas bewirken kann. International hilfreich war aber sicherlich, dass Hollywood-Star Angelina Jolie den Film mitproduziert hat.
Auch die äthiopische Regierung hat die Produktion des Films unterstützt. Leider ist fraglich, ob der äthiopische Staat heute noch im selben Maße Rechtskriterien in der Auseinandersetzung mit einer kritischen NGO-Anwältin gelten lassen würde. Es ist immer noch dieselbe Partei an der Macht, sie agiert aber zunehmend autoritär und rücksichtslos. Dass auch heute die Suspendierung einer NGO-Lizenz wieder rückgängig gemacht werden würde, scheint eher unwahrscheinlich.
Film
Das Mädchen Hirut, 2014, Äthiopien
Regisseur: Zeresenay Berhane Mehari