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Geschlechtergerechtigkeit

Gendergerechtigkeit in Südindien über acht Jahrzehnte

Krupa Ges erster Roman behandelt südindische Frauenschicksale von der späten Kolonialzeit bis 2019. Er heißt „What we know about her“. Dieser Beitrag ist der zweite unseres diesjährigen Kultur-Spezialprogramms mit Rezensionen künstlerischer Werke mit entwicklungspolitischer Relevanz.
Arti-Zeremonie 2019 in Benares: Das hinduistische Ritual kommt in Krupa Ges Buch mehrfach vor.  picture-alliance/All Canada Photos/Chris Cheadle Arti-Zeremonie 2019 in Benares: Das hinduistische Ritual kommt in Krupa Ges Buch mehrfach vor.

Krupa Ges Erzählweise ist subtil. Sie schreibt in der ersten Person und schildert die Perspektive von Yamuna, einer jungen Sozialwissenschaftlerin, die im Bundesstaat Tamil Nadu lebt, an ihrer Doktorarbeit sitzt und sich für die Geschichte ihrer Familie interessiert. Vor allem will sie mehr über Lalitha wissen. So hieß die Schwester ihrer Großmutter, die in den frühen 1940er-Jahren als klassische Sängerin berühmt wurde. Yamunas über 90-jähriger Großvater will aber weder über Lalitha sprechen noch alte Briefe zur Verfügung stellen.

Die Personen in diesem nuancenreichen Roman sind nicht schwarz-weiß porträtiert. Ein fortschrittlicher Gewerkschafter wird im Alter zum frommen Hindu. Ein Mann, der brutal seine Frau schlägt, kümmert sich rührend liebevoll um ein kleines Mädchen. Eine selbstbewusst feministische Mutter macht sich Sorgen darüber, was die Verwandten denken mögen, und will unbedingt, dass ihre eigenen Kinder heiraten.

Ge behandelt viele Themen – allen voran Geschlechtergerechtigkeit. Sie zeichnet die Historie von arrangierten Kinderehen über Teenagerhochzeiten bis zu selbstbestimmten nicht ehelichen Beziehungen heute. Frauen haben inzwischen mehr Ausdrucksmöglichkeiten als früher – auch außerhalb der Familie. Dennoch bestehen häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch und Unterdrückung fort. Gesellschaftliche Vorstellungen von Anstand bleiben wichtig, und die Großfamilie ist einflussreich.

Ge verbindet das Geschlechterthema auf interessante, aber weniger offensichtliche Weise mit der Kritik autoritärer Identitätspolitik. Der Roman spielt im Dezember 2019, als Proteste gegen eine Reform des Rechts über Staatsangehörigkeit ganz Indien erschütterten. Die hindu-chauvinistische Regierung von Premierminister Narendra Modi setzte Regeln durch, die Muslime benachteiligen. Ge spricht diese Dinge nur indirekt an, und wer sich mit indischer Politik nicht auskennt, dürfte viele Hinweise auf die Geschehnisse von 2019 sowie den Hindu-Chauvinismus insgesamt übersehen.

Der Autorin ist die lange Geschichte des rechtsgerichteten Fanatismus jedenfalls klar. Es passt, dass Lalithas Ehemann ähnlich aussieht wie Hitler und einer rechts-hinduistischen Organisation angehört, die zu den Vorgängern des RSS gehörte. Die Kaderorganisation RSS folgte in den 20er-Jahren dem Vorbild von Mussolinis Faschisten. Sie schuf ein riesiges Netzwerk, zu dem heute unter anderem Modis Partei, die BJP, gehört. Modi selbst ist RSS-Mitglied und vertritt als Parlamentsabgeordneter die heilige Stadt Benares. Im Roman reist Yamuna zweimal dorthin und sieht den Ort mit den Augen einer südindischen Touristin. Ge wendet sich nicht gegen den Hinduismus, sondern gegen missbräuchliche Identitätspolitik.

Dass sie sich auch mit Kastendifferenzen beschäftigt, ist noch schwerer zu erkennen. Es ist aber insofern nicht wichtig, als diese Fragen bruchlos in das Thema traditionelle Normen versus individuelle Freiheit münden. Die urbane Moderne, die Ge in Chennai/Madras beschreibt, entspricht nämlich durchaus westlichen Erfahrungen. Jede und jeder muss selbst entscheiden, welchen Ansprüchen sie oder er genügen will, um in einem als richtig empfundenen Maß den eigenen Weg im Leben zu finden.

Das Buch atmet einen indischen Geist. Lalitha akzeptiert ihr Erwachsenenleben, obwohl es von einer kurzen Pause abgesehen von Gewalt und Lieblosigkeit geprägt ist. Inneren Frieden findet nun mal nicht, wer sich gegen sein Schicksal wehrt. Vorstellungen von permanentem Glück führen leicht zu permanenter Enttäuschung. Westliche Vorstellungen von erfülltem Leben können so endlose Frustration bewirken.

Ge lehnt westlichen Individualismus nicht ab, sieht aber seine Grenzen. Westliche Autor*innen würden vermutlich skizzieren, an welchem Punkt zwischen Tradition und Selbstbestimmung die Romanfiguren auf einer Skala von null bis zehn angekommen sind, aber das interessiert Ge nicht. Sie schildert Yamuna und Lalitha als Kinder ihrer jeweiligen Ära, deren gesellschaftliche Konventionen ihnen Grenzen setzen. Beide versuchen ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, was aber nicht vollständig gelingen kann.

Buch
Ge, K., 2021: What we know about her Chennai, Context.

Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit /D+C Development and Cooperation.
euz.editor@dandc.eu