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Afghanistan

Das zweite Emirat der Taliban

In ihrer zweiten Herrschaft zeigen sich die Taliban in einigen wenigen Bereichen moderater. Das liegt an verschiedenen Faktoren, darunter internationalen Erwartungen und eine selbstbewusstere afghanische Gesellschaft. Ein Grund für Optimismus ist das nicht.
Afghanische Frauen fordern ihr Recht auf Bildung und Arbeit in Masar-e-Sharif. picture-alliance/EPA/STR Afghanische Frauen fordern ihr Recht auf Bildung und Arbeit in Masar-e-Sharif.

Seit nunmehr zwei Jahren beherrschen die Taliban im Namen ihres „Islamischen Emirats“ erneut Afghanistan. Der von den USA geleitete Versuch, das Land zu befrieden und aufzubauen, ist kläglich gescheitert.

Die Perspektiven auf dieses zweite Emirat variieren jedoch. Vielen scheint die Schreckenszeit des ersten Talibanemirats zwischen 1996 und 2001 zurückgekehrt. Internationale Medien berichten von zahlreichen außergerichtlicher Festnahmen und Hinrichtungen. Das betrifft insbesondere ehemalige Ortskräfte ausländischer Streitkräfte.

Während der ersten Talibanherrschaft kam es bereits zu schwersten Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen, unter denen besonders Frauen und Mädchen sowie ethnische und religiöse Minderheiten litten. Dem zugrunde lag eine grotesk reduktive Mischung aus zeitgenössischem islamischen Fundamentalismus und Führerkult. Kritik wurde abgelehnt, Kompromisse waren unmöglich.

Nun äußern manche Afghan*innen jedoch Hoffnung, dass die aktuell herrschenden Taliban nicht dieselben seien wie damals. Tatsächlich liefen im Vergleich zu den neunziger Jahren schon die ersten Tage der Machtübernahme glimpflicher ab. Während die siegreichen Taliban 1996 als eine ihrer ersten Handlungen den früheren Präsidenten Najibullah und dessen Bruder zu Tode folterten und die Leichen öffentlich zur Schau stellten, kamen im August 2021 Vertreter der geschlagenen Republik mit den neuen Machthabern zu Gesprächen zusammen. Ergebnisse lieferten diese Gespräche jedoch nicht.

Auch in der Bildungspolitik gibt es Unterschiede. Während des ersten Talibanregimes fand praktisch gar keine Mädchen- und Frauenbildung mehr statt. Aktuell können Mädchen bis zur sechsten Klasse zur Schule gehen. Zur Universität sind Frauen jedoch seit Ende 2022 nicht mehr zugelassen.

Zunächst durften Frauen weiter für Nichtregierungsorganisationen (NGOs) arbeiten. Ende 2022 wurde dies ebenfalls durch Talibanführer Akhundzada verboten. Teilweise sind die Taliban diesbezüglich aber weiter zu Kompromissen zu bewegen, etwa was die Duldung weiblicher Berufstätigkeit in Krankenhäusern anbelangt. Seit Juni 2023 dürfen NGOs auch keine Schulen mehr betreiben. Im Juli schlossen die Taliban zudem alle Schönheitssalons als letzte Orte, an denen Afghaninnen noch selbstständig arbeiten konnten.

Immer wieder Demonstrationen

Wirklich neu ist, dass die Betroffenen dies nicht mehr widerstandslos mit sich geschehen lassen. Seit der Machtübernahme kommt es immer wieder zu Demonstrationen von Frauen, die dabei häufig sogar ihre Gesichter zeigen – damals wie heute klar verboten.

Die mutigen Demonstrantinnen riskieren dabei sehr viel, und die Proteste werden immer wieder gewaltsam aufgelöst. Im ersten Talibanregime wären solche Aktionen allerdings völlig undenkbar gewesen, da Frauen damals selbst mit kleinsten Brüchen des geltenden Rechts schwerste Strafen – bis hin zum Tod – nicht nur für sich, sondern auch für ihre Ehemänner riskierten.

Männer haben unter den neuen Machthabern mehr Freiheiten. Sie setzen Frisur- und Kleidungsvorschriften für sie nicht mehr überall komplett um. Zumindest in größeren Städten sind rasierte oder westlich gekleidete Männer weiterhin zu sehen. Zudem wird die Ausübung von Mannschaftssport anders als früher weitgehend geduldet, und Gebetszeiten werden nicht mehr rigoros durchgesetzt.

Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass die Taliban die Darstellung von Lebewesen in Medien neuerdings dulden. Galt früher ein striktes Verbot der Darstellung von Menschen, das teilweise selbst für Tierabbildungen galt, sind heute Foto- und Videoaufnahmen von Personen zumindest in Nachrichtensendungen sowie den eigenen Propagandaerzeugnissen der Taliban allgegenwärtig. Selbst von afghanischen Youtuberinnen lassen sich die früheren Kämpfer immer wieder gerne interviewen.

Es gibt verschiedene Erklärungsansätze zu diesem in Teilen moderateren Verhalten der Taliban in Bezug auf die Umsetzung ihrer Regeln in der Praxis. In ihrer aktuellen Selbstdarstellung bleiben sie eher vage: „Wenn es um unsere Ideologie und unseren Glauben geht, so gibt es keinen Unterschied. Aber im Hinblick auf Erfahrung, Reife und Vision gibt es große Unterschiede im Vergleich zu vor zwanzig Jahren“, so Talibansprecher Zabihullah Mujahid in seiner ersten Pressekonferenz nur wenige Tage nach dem Umsturz.

Diese Transformation ist plausibel. Im Zuge ihrer Niederlage 2001 mussten die Taliban erkennen, dass sie sich extrem unbeliebt gemacht hatten. Hinzu kommt, dass die Globalisierung auch vor Afghanistan nicht Halt gemacht hat und sich die Taliban damit auseinandersetzen müssen.

Tausende Taliban – insbesondere Kommandeure – verbrachten in den zwanzig Jahren zwischen den beiden Emiraten jährlich mehrere Monate in Pakistan. Das Land ist zwar selbst von islamischem Fundamentalismus geprägt, aber Mädchenbildung, ein Mehrparteiensystem und ein leidlich funktionierendes Rechtswesen sind fast flächendeckend verbreitet. Berichten zufolge haben nicht wenige Kommandeure ihre Töchter heimlich in Pakistan eingeschult. Auch diese Erfahrungen beeinflussten die Machthaber offenbar.

Es ist gleichzeitig wahrscheinlich, dass das moderatere Vorgehen der Talibanführung Teil ihrer Strategie ist. Viele Beobachter befürchten, dass sie sich derzeit damit noch Anerkennung und Hilfsgelder von den reichen Nationen der Welt erhoffen, und nach dieser Phase zur alten Brutalität zurückkehren könnten. In der Tat ist zu beobachten, dass zum Beispiel die Bewegungsfreiheit von Frauen wieder stärker eingeschränkt wird. Demonstrationen finden zwar gelegentlich weiterhin statt, werden aber schneller und härter aufgelöst.

Schließlich könnte es auch die afghanische Gesellschaft selbst sein, die sich modernisiert hat und die Taliban zwingt, sich daran anzupassen. Eine ganze Generation ist in relativ hoher politischer Freiheit aufgewachsen, gut ausgebildet und hat dank der Anstrengungen nationaler und internationaler NGOs am Aufbruch einer Zivilgesellschaft teilgenommen.

Tatsächlich scheint diese These der Wahrheit am nächsten zu kommen. Die Taliban trafen 2021 auf eine selbstbewusstere, moderne Bevölkerung, die mit großem Mut für ihre Interessen einsteht. Während sicherlich so mancher Vertreter der Taliban heute reflektierter auftritt als früher, zeigt sich zunehmend, dass neue Freiheiten nicht dem Großmut der Taliban zu verdanken sind, sondern immer wieder erstritten werden mussten.

Dies ist kein Grund für Optimismus. Der Raum der Zivilgesellschaft wird hart eingeschränkt. Die Taliban bleiben eine totalitäre, gewaltverherrlichende Bewegung ohne nachhaltigen Reformwillen. Weiterhin verüben sie schwerste Menschenrechtsverletzungen.

Dennoch lässt sich festhalten, dass sich selbst die Taliban gewissen mäßigenden Einflüssen nicht verschließen konnten. Externe Akteure sollten daher sicherstellen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles dafür zu tun, dass die afghanische Gesellschaft weiterhin resilient bleibt.

Felix Kugele hat in Afghanistan für eine internationale humanitäre Organisation gearbeitet. 
felixkugele@yahoo.com