Gender

Es muss mehr geschehen

Nach einem brutalen Fall sexualisierter Gewalt protestieren Inder massenhaft gegen behördliches Versagen. Erstmals reagiert nun die "Mittelschicht" auf die Vergewaltigungsgefahr.
Mahnwache in Delhi picture-alliance / dpa Mahnwache in Delhi

Indien ist in düsterer Stimmung ins neue Jahr gestartet. Die Streitkräfte sagten alle Feierlichkeiten ab und selbst Indiens eingefleischte Party-Gänger trafen sich lieber zu Mahnwachen, um gegen ungeahndete sexualisierte Gewalt zu demonstrieren.

Indiens Hauptstadt Delhi ist zugleich Vergewaltigungsmetropole. Im Schnitt wird dort alle 18 Stunden ein Fall angezeigt. Laut offizieller Statistik stieg die Zahl solcher Übergriffe im Land von 2007 bis 2011 um 17 Prozent. Es ist aber klar, dass die meisten Fälle gar nicht gemeldet werden. Sexualisierte Gewalt ist indischer Alltag – im ländlichen Raum, im abgelegenen Nordosten, im unruhigen Kaschmir und selbst in den Städten, unter den Augen der Polizei.

Dass im Dezember eine junge Frau in Delhi brutal vergewaltigt und misshandelt wurde und später an ihren Verletzungen starb, löste Massenproteste aus, die von social-media-Aktivismus angefeuert wurden. Die Bevölkerung empört sich über Staatsapathie und die Komplizenschaft der Polizei. Erstmals reagiert die "Mittelschicht" auf das Vergewaltigungsrisiko. Ihr Protest soll gewählte Volksvertreter zur Verantwortung zwingen. Indiens Demokratie war lange wie betäubt – eingeschüchtert von behördlicher Arroganz und gelähmt vom wachsenden Konsumismus. Allzuoft regiert der Mob.

Ein Land mit mehr als einer Milliarde Menschen, verschiedenen Kulturen und vielen Sprachen wird immer Sorgen haben. Aber warum muss Indien „das schlimmste Land für Frauen“ sein, wie es der Nachrichtendienst Thomson Reuters formuliert hat? Starke Göttinnen wie Durga und Kali inspirieren Hindus. Wir haben Frauen in wichtigen Führungspositionen. Indira Gandhi war unsere Premierministerin, und ihre Schwiegertochter Sonia Gandhi führt heute die stärkste Partei.

Aber Indien ist auch ein Land, in dem weibliche Föten abgetrieben werden. Experten zufolge erreichen nur 45 Prozent aller geborenen Mädchen je ein Alter jenseits der Gebärfähigkeit. In einer frauenfeindlichen Kultur fühlen sich manche Männer berufen, ihre Männlichkeit durch den Missbrauch von Frauen zu beweisen.

Indien muss umdenken, allen voran seine Frauen. Aber auch die Art, wie Gesetze gemacht und durchgesetzt werden, muss anders werden. Abgeordnete, Polizisten und Richter müssen ihrer Verantwortung gerecht werden. Es ist nicht akzeptabel, dass Männer, denen Vergewaltigung vorgeworfen wird, als Abgeordnete in Parlamenten sitzen oder dass in manchen Dörfern Bräute eine Nacht mit ihrem Großgrundbesitzer verbringen müssen, bevor sie das Bett mit ihren Mann teilen dürfen.

Wird das Martyrium einer jungen Frau der Nation nun wirklich klar machen, dass es reicht? In ihrem Tod wurde die 23-Jährige zur Heldin. Sie wird jetzt „Indiens Tochter“ und „Braveheart“ genannt. Demonstranten fordern strengere Gesetze. Die Polizei hat mittlerweile die Tatverdächtigen in Rekordzeit gefasst und den Strafprozess vorbereitet. Das ist aber nur die behördliche Reaktion auf ein schreckliches Verbrechen in der Hauptstadt. Selbst Optimisten wissen, dass der Rest des Landes noch weit hinterherhinkt.

Aditi Roy Ghatak arbeitet als freie Journalistin in Kolkata und Delhi.