Frauenrechte

Vielschichtige Bewegung

Viele Frauen kämpfen in Indien gegen patriarchale Machtstrukturen. Sie stellen traditionelle Rollenvorstellungen zur Diskussion und wollen Geschlechterungerechtigkeit reduzieren – angefangen in der Privatsphäre der Familie.
Frauen in Karnataka. Diehl Frauen in Karnataka.

Vibhuti Patel und Radhika Khajuria blicken in einer neuen Studie auf die Geschichte des feministischen Aktivismus in Indien zurück. Die Ursprünge sehen die beiden Wissenschaftlerinnen in der Sozialreformbewegung des 19. Jahrhunderts. Vor allem Frauen aus der Ober- und Mittelschicht kämpften damals für Geschlechtergerechtigkeit und gegen sozia­le Segregation. Heute sind dagegen auch viele Frauen der unterdrückten Kasten („Dalits“) sowie Industrie- und Landarbeiterinnen aktiv. Die Frauenbewegung stützt sich dabei auf eine große Bandbreite von politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Graswurzelinitiativen und wissenschaftlichen Instituten.

In ihrem von der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichten Werk betonen Patel und Khajuria die gemeinsamen Forderungen der Frauenbewegung. Diese betreffen nahezu die gesamte Gesellschaft: Politik, Wirtschaft, Umwelt, Medien, Bildung, Familie. Die Frauenbewegung erkennt Geschlechterungerechtigkeit in der Vergabe von politischen Posten ebenso wie bei der Verteilung von Landbesitz. Im Familienrecht sind Mann und Frau nicht gleichgestellt, was unter anderem bei Scheidungen für Frauen Nachteile bringt.

Die Autorinnen schildern, dass die Frauenbewegung von Anfang an gegen normative Vorstellungen von Geschlechterrollen, die der patriarchalen Familienordnung entsprechen, ankämpfte. Ihnen zufolge verstetigen sich Rollenbilder zudem unter der Oberfläche der markt­orientierten Modernisierung. Wie viele Feministinnen kritisieren Patel und Khajuria außerdem eine „patriarchale Kontrolle weiblicher Sexualität“ (Patel/Khajuria 2016), die auch innerhalb von Familien allzu oft in Vergewaltigung gipfele, und fordern sexuelle Selbstbestimmung.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bemühen sich Feministinnen um die Stärkung des einzelnen Individuums. Auch zivilgesellschaftliche Organisationen verfolgen dieses Ziel. Jede Frau soll letztlich ein selbstbestimmtes Leben führen. Heute suchen viele Frauen solche Chancen in den großen Städten und leben dort auch in Single-Haushalten. Die verschiedenen Fraktionen der Frauenbewegung sind sich nicht darüber einig, wie weit die individuelle Unabhängigkeit reichen soll. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Familie in Indien für die soziale Sicherheit weiterhin eine entscheidende Rolle spielt.

Trotz gemeinsamer Forderungen ist die Frauenbewegung sehr heterogen. Ansichten von Landarbeiterinnen unterscheiden sich von denen von Linksintellektuellen in den Städten – zum Beispiel beim Thema Homosexualität. Sexuelle Selbstbestimmung wird unterschiedlich verstanden. Ebenso unterscheiden sich Haltungen zur Marktorientierung und Modernisierung. Leider gehen die Autorinnen darauf kaum ein.

In der Praxis wählen viele Frauen ihren Ehemann selbst, in vielen Fällen wird diese Entscheidung aber von den Eltern getroffen. Oft haben die Frauen auch ein Mitspracherecht (siehe Beitrag über arrangierte Ehen in der arabischen Welt von Martina Sabra). Darüber, wie diese Dinge gehandhabt werden sollen, gehen die Meinungen auch innerhalb der Frauenbewegung auseinander. Während manche Frauen mehr Entscheidungsfreiheit fordern, sehen andere ihrer Selbstbestimmung nicht eingeschränkt, wenn sie Entscheidungen im Kreis der Familie treffen. Solche Differenzen erläutern Patel und Khajuria nicht.

Geschlecht ist in Indien für die beiden Autorinnen nicht die einzige Quelle von Ungerechtigkeit. Auch Religions- oder Kastenzugehörigkeit führen zu struktureller Benachteiligung. So behandeln beispielsweise Polizisten Frauen aus niedrigen Kasten anders als Frauen aus hohen Kasten und verhindern beispielsweise, dass sie Anzeige wegen Vergewaltigung erstatten. Musliminnen werden ebenfalls häufig benachteiligt. Patel und Khajuria meinen, diesen Ungerechtigkeiten solle  die Frauenbewegung mehr Beachtung schenken.

Lea Diehl


Quelle
Patel, V. und Khajuria, R., 2016:
Political feminism in India: An analysis of actors, debates and strategies. New Delhi: Friedrich-Ebert-Stiftung.
http://library.fes.de/pdf-files/bueros/indien/12706.pdf

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